Sonntag, September 29

An den Volksabfahrten in Mürren, Saas-Fee und auf der Belalp verschmelzen hochalpiner Sport, gefährlicher Temporausch und grosse Party. Eine Reportage von der Piste.

An diesem Samstagmorgen sind mehrere hundert Skirennfahrer schon um 6 Uhr 45 den Berg hochgefahren. Und jetzt, kurz vor 8 Uhr, tummeln sie sich ganz zuoberst im Skigebiet von Saas-Fee, just vor dem Starthäuschen auf 3600 Metern über Meer, vor einer alten blauen Seilbahnkabine. Die meisten der Fahrer haben ihre unterschiedlich athletischen Körper in Renndresse gequetscht, eng anliegende Skianzüge wie bei den Profis. Vor ihnen liegt die Strecke des Allalin-Rennens, eine neun Kilometer lange Abfahrt.

Die Allalin-Abfahrt von Saas-Fee ist das Finale der «Super Drei Rennen». Die letzte Schweizer Volksabfahrt der Saison. Die Rennserie besteht aus der «Hexe» auf der Belalp, dem Inferno-Rennen in Mürren im Berner Oberland und eben, dem Rennen am Allalin. Jedes Jahr wird in dieser Serie der Abfahrtsmeister unter den Amateuren gekürt. Dabei werden Skisport, Temporausch, Folklore und Volksfest zelebriert.

«Gring achi und hi»

Am Startgelände steht auch Kilian Rufener, 22 Jahre alt, aus Zweisimmen. Er trägt einen alten Swisscom-Skidress wie früher die Schweizer Profis, dazu einen blauen Helm und Stöckli-Ski. Rufener ist vor dem letzten Rennen der Saison der Führende in der Gesamtwertung der «Super Drei». Er hat einen komfortablen Vorsprung und müsste die Gesamtwertung eigentlich gewinnen. Doch so einfach ist es nicht.

Schon im vergangenen Jahr war Rufener als Gesamtführender zur Allalin-Abfahrt gestartet. Der Sieg war zum Greifen nah, doch dann hat es ihn an einem steilen Hang unterhalb von Morenia «überschlagen». Zu viel Risiko, zu viel Druck, sagt Rufener. Der Vorsprung war dahin, der Sieg war weg.

Und nun muss sich Rufener beim Starthaus auch noch gedulden. Vor ihm dürfen die 40 «Champions League»-Fahrer auf die Piste – 30 Männer und 10 Frauen. In die exklusive Klasse kommt, wer schon lange an den Schweizer Volksabfahrten teilnimmt und gute Rennzeiten abliefert. Es gibt hier Fahrer, die seit mehr als 40 Jahren dabei sind. Kilian Rufener fährt erst seit zwei Jahren mit und startet mit der Nummer 60.

Er geht jetzt den Streckenverlauf nochmals im Kopf durch, er visualisiert und redet mit sich selbst. Viel Zeit zu überlegen, bleibe ohnehin nicht, sagt er. «Im Startblock heisst es: ‹Gring achi und hi›.»

«Weisse Meile», «Eiskristall», «Derbyhang»

Um exakt 7 Uhr 47 ertönt das Zeichen: «Die Piste ist frei», das Rennen kann gestartet werden. Im Abstand von jeweils 12 Sekunden stürzen sich die Fahrer den Berg hinunter. Sie passieren Schlüsselstellen wie die «Weisse Meile», den «Eiskristall», den «Derbyhang». Wer volles Risiko geht, erreicht Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 150 Kilometern pro Stunde. Doch im Gegensatz zu den Rennen im Weltcup sind die Strecken der «Super Drei»-Abfahrten kaum gesichert. Jedes Jahr stürzen mehrere Fahrer. Es heisst, die schnellsten Fahrer würden, wenn sie den Berg hinunterrasen, einfach «den Kopf ausschalten».

Die Schweiz ist eine Ski-Nation, noch immer, das zeigt sich an den Volksabfahrten. Was für die Profis das Lauberhorn in Wengen, die Streif in Kitzbühel oder die Tofana in Cortina d’Ampezzo sind, das sind für die Amateure die Hexe, das Inferno und das Allalin. Früher gab es noch den «Weissen Schuss» in Laax und das «Parsenn-Derby» in Davos. Heute finden die Rennen an drei Wochenenden zwischen Januar und April statt. Und verlangen den Fahrern alles ab. Insgesamt 36 Kilometer und 5500 Meter Höhendifferenz müssen bezwungen werden.

Das Allalin-Rennen ist das schnellste und technisch anspruchsvollste. Schon im Jahr 1946 wurde in Saas-Fee erstmals ein Rennen ausgetragen. Damals stiegen neun Einheimische aufs Allalinhorn und fuhren die unpräparierte Piste bis nach Saas-Fee, von 4027 Höhenmetern hinunter auf 1800. Acht Jahre später gab es eine weitere Abfahrt. Dann folgte eine lange Pause, bis sich das Rennen ab 1983 als Schweizer Volksabfahrt etablierte.

Heute sind die Volksabfahrten für die Tourismusdestinationen wichtig, weil sie in der Zwischensaison oder am Saisonende noch einmal Wertschöpfung generieren. Die Hotels, Restaurants, Läden, Bergbahnen profitieren.

Nicht der beste Rennfahrer, aber der schnellste

Am Donnerstagnachmittag, zwei Tage vor dem Allalin-Rennen, herrscht in Saas-Fee nochmals Hochbetrieb. «Cotton Eye Joe», «Petra Sturzenegger» oder Lieder der Backstreet Boys ertönen aus den Lautsprechern der Après-Ski-Bars. Auf den holzgetäferten Veranden tanzen die Leute, trinken heissen grünen Wodka, Aperol Spritz und Bier.

Kilian Rufener, ein gelernter Landwirt, der im Sommer als Flughelfer arbeitet und im Winter als Zimmermann, sitzt an diesem Donnerstag in einem Hotel im Dorfkern und bestellt sich eine Cola. Er hat einen lockigen Vokuhila, braune Augen und spricht breites Berndeutsch. Im Rennen in zwei Tagen wird er der Gejagte sein, doch er wirkt entspannt.

Er sei nicht der beste Rennfahrer, sagt Rufener, aber der schnellste. Trainieren gehöre nicht zu seinen Stärken. Seine Vorbereitung auf die Rennen sei banal. «Ein bisschen aufs Velo. Viel mehr mache ich nicht.» Wer auf ein Rennen hin trainiere, habe Erwartungen, und das wirke sich bei ihm schlecht auf das Fahren aus. Er sei ein Minimalist und komme lieber mit wenig Anstrengung ans Ziel.

Rufener weiss, wovon er spricht. Mit mehr Fleiss hätte er Skiprofi werden können. Er fuhr einst ein Jahr lang im Kader der Skicrosser von Swiss Ski. Doch das Leben als Profi passte ihm nicht. «Das war nicht meine Welt», sagt Rufener. Bei den Volksabfahrten fühle er sich viel besser aufgehoben als im professionellen Skizirkus. «Hier herrscht eine grossartige Stimmung ohne Konkurrenzkampf. Es entstehen Freundschaften. Das mag ich.»

Wie Biker-Gangs im Schnee

Die meisten Fahrer an den Volksabfahrten stammen aus dem Berner Oberland und der Innerschweiz. Aber auch Welsche, Deutsche, Italiener, Tschechen und Amerikaner fahren mit. Sie reisen oft in Teams an, mit guten alten Freunden. Die Teams haben Namen wie Banana Boys, Heiligchrüüz-Crow, Niedersimmental III, Skikiller Fricktal. Sie tragen ihr eigenes Merchandise, Mützen, T-Shirts und Fleece-Jacken. Und wirken wie Biker-Gangs im Schnee.

Jetzt, am Renntag, steht Kilian Rufener noch immer am Start. Doch das Rennen läuft. Ein Fahrer holt auf der Piste den Konkurrenten ein, der vor ihm gestartet ist. Es kommt zum heiklen Überholmanöver. Die Szene erinnert an die Olympischen Spiele 1992, als im Riesenslalom ein Fahrer seinen Konkurrenten überholte. Der legendäre TV-Kommentator Hans Jucker schrie damals ins Mikrofon: «Da chömmet zwee! Ho ho ho! Ganz guet!» An den «Super Drei Rennen» sind solche Manöver normal. Der Sprecher im Zielraum sagt: «Passt auf – Gesundheit geht vor!» Das Rennen wird live im lokalen Fernsehen übertragen und auf Youtube gestreamt.

«Angefressene Skifahrer»

Auf dem Festgelände beim Ziel auf dem Sportplatz Kalbermatten steht Ambros Bumann mit schwarzer Schirmmütze und einem Glas Weisswein unter einem Sonnenschirm. Bumann wirkt wie ein Patron, alle kennen ihn. Er war 21 Jahre lang Präsident des Organisationskomitees der Allalin-Rennen. Zum Mythos der Schweizer Volksabfahrten sagt er: «Die Amateure können hier auf einer professionell präparierten und abgesperrten Piste fahren. Das können sonst nur die Profis.» Dann schaut Bumann hoch zum Mittelallalin. «Ich muss aber sagen: Wer hier in vollem Tempo runterfährt, muss schon ein wenig verrückt sein.»

Bumann ist an jedem Rennen dabei, auch wenn er vor zwei Jahren das Präsidium an die jüngere Generation übergeben hat. Der Berg lasse ihn nicht los. Die Mentalität der Fahrer habe sich in all den Jahren nicht geändert. «Hier starten angefressene Skifahrer.» Viele seien früher in einem Jugendkader des nationalen Verbands durchgefallen, doch sie hätten sich Talent und Ehrgeiz bewahrt.

Im Ziel fahren jetzt die ersten Fahrer ein. Und fallen vor lauter Erschöpfung hin. Die Abfahrt hat ihnen den Schnauf geraubt. Doch dann stehen sie auf und nehmen sich gegenseitig in die Arme, gehen zur Festbank, holen sich etwas zu trinken und philosophieren über die Abfahrt.

Schon jetzt, früh am Morgen, ist es um die zehn Grad warm. Der Rennstart musste wegen der Wärme um eine halbe Stunde nach vorne verschoben werden. Die Sonne macht den Schnee mit jeder Minute weicher. Auch der Gesamtführende Kilian Rufener muss noch einmal bangen.

In einer Passage, in der er nicht überholen kann, hat er einen langsameren Fahrer vor sich. Rufener muss abbremsen, verliert Zeit. Sein Vorsprung schmilzt wie der Schnee im gleissenden Licht.

Grüne «Blonde 25»-Flaschen statt Red-Bull-Dosen

Das Zielgelände hat sich mittlerweile gefüllt. Die Fahrer geben dem lokalen TV-Sender Interviews wie Profis. Doch statt Red-Bull-Dosen halten sie die grünen Flaschen der Walliser Biermarke «Blonde 25» in die Kamera. Aus den Lautsprechern ertönen Après-Ski-Hits, überall wird gelacht.

Kilian Rufener fährt schliesslich mit der siebtbesten Zeit des Tages ins Ziel. Auf seinen ärgsten Verfolger im Gesamtklassement verliert er zehn Sekunden. Das ist unter seinem Anspruch, doch Rufeners Vorsprung war mit 21 Sekunden gross genug.

Rufener holt sich den Gesamtsieg. Und hält bald schon das erste Bier in der Hand, ist verschwitzt und glücklich. Die Startnummer und der Pokal, den er am Abend erhalten wird, würden daheim einen besonderen Platz finden, sagt er. Und spricht bereits von der Teilnahme im nächsten Jahr.

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