Verbale oder auch tätliche Attacken auf deutsche Politiker sind um 20 Prozent gestiegen. Für einige der Betroffenen gehören Morddrohungen zu ihrem Amt dazu.
Belit Onay war angeekelt. Der Oberbürgermeister der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover hatte auf den Mauern seines Rathauses rassistische Sprüche lesen müssen. «Kanake zur Hölle Onay» oder «In die Gaskammer» hatten Unbekannte im vergangenen November darauf gesprüht. Der Vorfall ereignete sich kurz vor einer Demonstration gegen Ausgrenzung, Antisemitismus und Extremismus. Diese Verrohung, dieser Hass und die Bereitschaft, beides öffentlich auszutragen, schockierten Onay.
Der Grünen-Politiker war als Sohn türkischer Eltern der erste Oberbürgermeister einer deutschen Landeshauptstadt, der einen Migrationshintergrund hat. Nach fünf Jahren im Amt war er einiges gewohnt an Sprüchen, Beleidigungen, Vorurteilen. Doch dieser Vorfall erreichte für ihn ein neues Niveau. «Dieser Vorfall hat gezeigt, dass die politische Diskussion in Deutschland teilweise in eine sehr bedrohliche Dimension ausgeartet ist», sagt Onay heute.
Er ist einer von den immer mehr werdenden öffentlichen Amtsträgern in Deutschland, die im vergangenen Jahr verbal oder auch tätlich angegriffen worden sind. Anfang Februar teilte das Bundesinnenministerium auf eine parlamentarische Anfrage der Bundestagsabgeordneten Martina Renner von der Partei Die Linke mit, 2024 habe es deutlich mehr Angriffe auf Abgeordnete und weitere Amts- und Mandatsträger gegeben.
Die Zahl dieser Delikte ist laut den Angaben auf 4923 gestiegen. 2023 waren es 4047 Straftaten gewesen. Das bedeutet eine Zunahme von 20 Prozent, die sich sogar noch erhöhen dürfte. Die Polizeibehörden in den Bundesländern konnten entsprechende Angriffe aus dem vergangenen Jahr noch bis Ende Januar nachmelden. Zuerst hatte das Redaktionsnetzwerk Deutschland darüber berichtet.
Staatsschutz vor der Wohnungstür
Ein Bericht, der Belit Onay nicht überrascht hat. Die Zahl der Angriffe auf Politiker sei schon seit Jahren auf einem «stabil hohen Niveau», sagt er. Das Klima auf der Strasse, wo die Politiker um Wählerstimmen buhlen, sei «extrem rau» geworden. «Das spürt man im wahrsten Sinne des Wortes», sagt Onay. Der direkte Austausch mit den Menschen sei zum Teil «sehr, sehr aggressiv» geworden. Für Hannovers Oberbürgermeister und seine Familie hatte das schon einmal Folgen: Zeitweilig, kurz nach seinem Amtsantritt im Jahr 2019, hatten zwei Beamte vom Staatsschutz die Wohnungstür der Familie bewachen müssen. Zu zahlreich waren die Hassbotschaften auf Onay niedergegangen.
Auch Olaf von Löwis brauchte die Unterstützung von Einsatzkräften. Vor genau einem Jahr geriet der CSU-Landrat des oberbayrischen Kreises Miesbach bundesweit in die Schlagzeilen. Löwis hatte sich in der Gemeinde Warngau einer Bürgerversammlung gestellt, nachdem dort eine Flüchtlingsunterkunft errichtet werden sollte. Hunderte Bürgerinnen und Bürger schrien von Löwis ungehemmt ihren Zorn entgegen, die Polizei eskortierte ihn schliesslich aus dem Saal und aus dem Ort. Sie musste dabei noch eine Blockade auflösen, die mehrere Bauern mit ihren Traktoren gebildet hatten.
Als der Landrat darüber in den Medien sprach, begannen die Beschimpfungen aufs Neue. «Was bist denn du für ein Weichei?», schrieben ihm die einen, «Das war gar nicht so schlimm, das musst du aushalten!», die anderen. Heute sagt von Löwis: «Nicht nur beim Thema Flüchtlinge herrscht eine sehr schnelle Reizbarkeit der Bevölkerung.» Diese ziehe sich auch insgesamt als grosse Herausforderung durch die Gesellschaft. «Aber ich gebe zu», ergänzt von Löwis, «die Vorfälle, in denen Mandatsträger angegriffen oder bedroht werden, sind zu 90 Prozent auf die Flüchtlingsthematik bezogen.»
Kurz nach dem Vorfall auf der Bürgerversammlung sass von Löwis bei Markus Lanz. In der ZDF-Talkshow berichtete er von seinen Erlebnissen, schilderte, wie er vor Ort gezittert habe, als ihn die Polizisten in einem Korridor durch den Hinterausgang in Sicherheit geführt hätten. Mit von Löwis in der Sendung sass René Wilke, der Oberbürgermeister von Frankfurt (Oder). Wilke sagte nach den Schilderungen von Olaf von Löwis: «Als Amtsträger muss man heutzutage irgendwie damit rechnen, dass auch mal Morddrohungen kommen.»
Olaf von Löwis stimmt dem zu. «Darum zweifle ich manchmal an meiner Entscheidung, Landrat werden zu wollen – und frage mich: Warum habe ich mir das angetan?», sagt er. Wenn von Löwis heute mit Menschen spricht, die überlegen, sich für die Kommunalwahlen im kommenden Jahr aufstellen zu lassen, sagt er ihnen, dass sie ein dickes Fell mitbringen müssen. Und sich Morddrohungen unter Umständen nicht vermeiden lassen.
Er selbst komme damit klar, sagt von Löwis. «Ich habe eine relativ hohe Resilienz schon mitgebracht und habe sie jetzt auch noch.» Doch er stellt auch fest, dass er mit der Zeit dünnhäutiger werde. Resilienz wächst nicht, wenn die Zahl an Beschimpfungen und Drohungen wächst. «Nein, eher wird das eigene Fell dünner», sagt von Löwis. Seine Familie helfe ihm dabei, seine Resilienz zu bewahren.
Und doch freut er sich auf die Wahlen im kommenden Jahr. Denn dann wird seine Amtszeit enden. Zwar könnte er nach einer Gesetzesänderung in Bayern auch mit inzwischen 70 Jahren noch einmal kandidieren – doch von Löwis verzichtet darauf. Erst die Corona-Zeit, dann die Vorfälle in Warngau, all das hat ihn darin bestärkt, sein Amt abzugeben. Ob er froh ist, dann keine Morddrohungen mehr zu erhalten? Ja, natürlich, sagt von Löwis. Die gegenwärtige Lage sei eine wirklich sehr schwierige, betont er noch.
«Die demokratischen Spielregeln werden aufgekündigt»
Und es ist nicht absehbar, dass besagte Lage enden wird. Zu lange rollt die Welle der Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker in Deutschland schon, ohne zu verebben. 2015 wurde Henriette Reker, Oberbürgermeister-Kandidatin in Köln, niedergestochen. Im vergangenen Jahr wurde die sozialdemokratische Berliner Wirtschaftssenatorin und frühere Bürgermeisterin Franziska Giffey geschlagen, dem sozialdemokratischen Europaabgeordneten Matthias Ecke brachen vier Angreifer mit ihren Schlägen das Jochbein und die Augenhöhle. Dem sächsischen Landtagsabgeordneten Hans-Jürgen Zickler von der AfD wurde an einem Wahlkampfstand in Dresden von einem Mann mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Beispiele, die verdeutlichen, dass sich Teile der Gesellschaft zunehmend radikalisiert haben und Gewalt und Bedrohung als ein legitimes Mittel in der politischen Diskussion betrachten.
«Die demokratischen Spielregeln werden aufgekündigt», sagt Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay. «Und das ist der fatale Schritt.» Immer mehr Menschen sähen sich legitimiert, ihren Willen ausserhalb der demokratischen Rollen durchzusetzen. Statt um Mehrheiten zu kämpfen, Unterschriften zu sammeln oder Gleichdenkende zu mobilisieren, werde versucht, den Willen handfest durchzusetzen. Eine Entwicklung, die Onay erschreckt. «Menschen, die so agieren, sehen sich im Recht.» Sie spürten eine Legitimation nach dem Motto: «Die Entscheidungsträger müssen den Unmut der Menschen auch zu spüren bekommen.»
Andreas Zick, Konfliktforscher an der Universität Bielefeld, bestätigte dem WDR eine zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft. Es werde emotionaler und angespannter, sagte Zick. Auch wegen der AfD. Die Partei habe die Form der populistischen Zerrbilder und der extremen Sprache in die Parlamente getragen.
«Die politische Mitte tut sich schwer, wie sie mit dieser wachsenden Polarisierung umgehen soll», sagte Zick. Politik wie Polizei liessen bis jetzt eine Strategie für mehr und bessere Gewaltprävention vermissen. «Wir brauchen einen Ruck durch die Gesellschaft – vor allem in Fragen der Mässigung, der Konsensfindung und in der Distanz vor menschenverachtenden Zerrbildern, über die Menschen reduziert werden», sagte Zick.
Belit Onay hat für sich persönlich einen Weg gefunden, mit den Angriffen umzugehen. Strafrechtlich relevante Äusserungen gegen sich bringt er zur Anzeige, schon mehrfach führten die folgenden Verfahren zu Verurteilungen. Geändert hat sich dadurch aber: nichts. «Ganz im Gegenteil», sagt Onay. «Wer strafrechtlich relevant beleidigt, sieht sich nicht im Unrecht.» Diese Menschen sähen darin nicht selten einen legitimen, berechtigten und notwendigen Widerstand. «Und ich glaube, das ist das Hauptproblem», sagt Onay. Beeindrucken lässt er sich davon aber nicht. Er habe eine klare Agenda, spüre den Zuspruch seiner Stadt. «Aber angenehm sind solche Drohungen nach wie vor nicht.»
Bundesinnenministerin Nancy Faeser von der SPD hat die Entwicklung der zunehmenden Angriffe auf Politiker vergangene Woche verurteilt. Faeser kündigte gezielte Strafrechtsverschärfungen sowie einen besseren Schutz der Privatadressen von Kommunalpolitikern an.
Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay hat die Hoffnung, dass sich etwas bessert. Nicht nur durch Faesers Ankündigungen, sondern durch einen Brückenbau zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen – damit wieder ein Konsens entsteht für politische Diskussionen, für ein demokratisches Miteinander. «Das ist die gesellschaftliche Herausforderung, der wir uns stellen müssen», sagt er. Diese Herausforderung lasse sich aber nur bewältigen, wenn vor allem die grossen demokratischen Kräfte, die Parteien im Bundestag und in den Landtagen, mit gutem Beispiel vorangingen.