Verschwunden sind die Vorspeisen zwar noch nicht aus der europäischen Restaurantkultur, doch Qualität und Vielfalt des ersten Ganges nehmen ab. Viele Gäste verzichten sogar auf den Starter und gehen gleich zum Hauptgang über. Der Zeitgeist des Jahres 2025 hat mit einem zelebrierten Einstieg ins Essen nichts im Sinn.
Der Hot Pot ist eine der beliebtesten Speisen Taiwans und funktioniert fast überall ähnlich. Gäste bekommen einen grossen Topf Brühe, je nach Wahl, und diverse Zutaten zum Hineingeben. Zu dem an Fondue chinoise nach Schweizer Adaption erinnernden Spass gehören in aller Regel keine Vorspeisen. Man fängt einfach an und hört später auf, zahlt und geht.
Für viele ältere Europäer ist der unvermittelte Anfang des Mahles eine ungewöhnliche Art des Essens, für viele asiatische Gäste und jüngere Schweizerinnen und Schweizer dagegen nichts dramatisch Ungewohntes. Anders als noch vor ein paar Jahren ist das auswärts eingenommene Mahl heute eher von Effektivität als von Musse geprägt. Man will rasch zur Sache kommen, auch weil sich in krisenhaften Zeiten wie diesen das stundenlange Sitzen bei Tisch nicht mehr richtig anfühlt. Nirgendwo anders wird das so deutlich wie bei den Vorspeisen.
Alibi-Auftakt oder Verzicht auf die Vorspeise
In so manchem Restaurant wurde die Rubrik mit den Vorspeisen deshalb ohne Ankündigung zurechtgestutzt, sofern sie nicht gleich ganz abgeschafft und gegen eine blosse Listung verfügbarer Speisen ausgetauscht wurde. Nur eine Handvoll oder eineinhalb Dutzend Gerichte aufs Menu zu schreiben, liegt im Trend. Eine Hierarchie gibt es da nicht mehr, weshalb der oft etwas orientierungslose Gast einfach irgendwo startet.
Das Zürcher «Dar» handhabt es so ähnlich, der «Gaijin Izakaya» auch. Statt Speisen in Vorspeisen, Zwischen- und Hauptgerichte einzuteilen, so wie früher, hat man hier Kategorien wie «Frisch und knusprig» oder «Fire» erfunden.
Ob das die Sache einfacher macht? Fraglich. Vielleicht spekulieren die Gastronominnen und Gastronomen ja darauf, dass die Kundschaft einfach alles zusammen bestellt, es untereinander teilt (Sharing ist seit ein paar Jahren Mode) und schnell wieder verschwindet, auf dass der Tisch neu besetzt werden könnte.
Manche Lokale haben übrigens die Vorspeisen zwar verschwinden lassen, aber eine neue Kategorie namens Snacks erfunden – in dieser stehen dann meist sehr schlichte Angebote, bei denen klar wird, dass sich die Küche keinerlei Arbeit macht.
Kaum noch jemand widmet den Vorspeisen Aufmerksamkeit
Wo es doch noch offiziell Vorspeisen gibt, sind diese oft austauschbar. Starter müssen, glauben viele in der Gastronomie, gut vorzubereiten sein: Rindscarpaccio trifft Lattichherz oder Tagessuppe. Fürs Restaurant eine gewinnträchtige Sache, für die Kundschaft aber oft pure Langeweile. Und selbst in der gehobenen Gastroszene geht es am Anfang ebenfalls alles andere als spannend zu: Hamachi wird hier rauf und runter dekliniert, warme Vorspeisen gelten vielen Köchinnen und Köchen als allzu aufwendig.
Schade ist das schon deshalb, weil Vorspeisen von jeher eingebunden sind in eine Dramaturgie des Essens, die mit dem Amuse-bouche und dem Apéritif beginnt, über Vorspeisen und Zwischengerichte, den Hauptgang und das Dessert bis zum Digestif führt. Richtig gute, klassische Restaurants stimmen alle Etappen aufeinander ab und bescheren Erlebnisse. Wussten übrigens schon die antiken Gourmets: Bereits im alten Rom wurden die verschiedenen Gänge und mithin auch die Vorspeisen zelebriert.
Vorspeisen erfüllen gleich mehrere Zwecke
Wo man sie heute noch findet, die Vorspeisen-Erlebnisse? Na zum Beispiel in der auf den ersten Blick etwas angestaubt wirkenden Gastronomie. In der Basler «Safran Zunft» kommt vielleicht ein pochiertes Ei en meurette auf den Vorspeisenteller, in der Zürcher «Hummerbar» ein Krabbencocktail, während man sich in «Jack’s Brasserie» in Bern gratinierte Schnecken kommen lassen kann.
Es handelt sich stets um kleine bis mittlere Portionen, gerade recht, um den durch Champagner, Kir oder Pastis geweckten Appetit zu streicheln. Die nach der Vorspeise entstehende Pause hat ebenfalls ihren Zweck. Der erste Hunger ist nun gestillt, die Nerven sind beruhigt: Man kann mit ernsthaften Gesprächen beginnen, sich im Gastraum umsehen, das Ambiente geniessen und Freude auf Zwischengänge und Hauptspeisen entwickeln. Die angeblich so coolen und zeitgeistigen Snack- und Sharing-Gäste des Jahres 2025 wissen gar nicht, was ihnen entgeht.