Ob fruchtig oder pikant, ob warm oder kalt: Auf die helvetischen Spielarten des Blechkuchens ist Verlass, in Zürich wie anderswo.

Ob man nun diesen erbärmlichen Sommer dem Böögg, Petrus oder dem Klimawandel (also uns selbst) anlastet: So richtiges Glacewetter gab’s heuer noch viel zu selten. Also widmen wir uns hier einer Spezialität, ob kalt oder warm, fruchtig oder salzig, die als eidgenössische Geheimwaffe gegen allerhand Wind- und Wetterlagen gelten darf: den Wähen.

Ihr Name reimt sich so schön auf «bähen» (für «wärmen») und hat ganz gewiss keine sprachliche Verwandtschaft mit dem abschätzigen «wäh!» – viel eher gemeinsame Wurzeln mit «Wehen». Jedenfalls hiess sie schon im 16. Jahrhundert so, wie im Dialektwörterbuch «Idiotikon» unter dem Stichwort «Wäje» zu lesen ist. War sie damals eine Arme-Leute-Mahlzeit und diente der Verwertung von Brotteigresten, ist sie längst im gutbürgerlichen Umfeld angekommen und wird mit Mürbe-, manchmal Blätterteig zubereitet. Typisch für die süssen Versionen ist ein ebensolcher Guss, der sie von Verwandten wie Tartes oder Quiches unterscheidet.

Die Wähe klingt nicht nur aamächeliger als ein nüchterner Blechkuchen, sie ist in ihrer Vielfalt auch zum Schweizer Kulturgut geworden. In manchen Haushalten und Bäckereien gilt noch heute nach altem Brauch der fleischlose Frei- als Wähentag. Und als vor über einem halben Jahrhundert ein fremdländischer Fladen namens Pizza in Zürich zu seinem Eroberungszug ansetzte, diskreditierte die NZZ ihn als «südländisches Pendant unserer einheimischen Wähen». Im «Idiotikon» findet sich unter den Dutzenden aufgeführten Varianten auch die «Mafiawähe», als saloppe Bezeichnung für die Pizza.

Nun, am letzten Samstag hat an der Europameisterschaft die Wähe die Pizza klar geschlagen, zumindest auf dem Fussballplatz. Beide sind, wie es bei Seelennahrung üblich ist, mit Kindheitserinnerungen aufgeladen, und zu den frühesten zählt in meinem Fall die Fruchtwähe: Wurde ich wegen meiner Flausen im Kopf ohne Znacht ins Bett geschickt, bekümmerte mich das üblicherweise wenig – es sei denn, es war ein «Wähenznacht» angekündigt. Denn der war wirklich eine Verheissung, eher Dessert als Mahlzeit, selbst die sauersten Aprikosen konnten mit dem Guss zum Genuss werden.

Mein Hunger nach süssen Wähen währte weiter in der Mittelschulzeit, es stillte ihn die Konditorei Berner, wenige Schritte vom Zürcher Gymnasium Rämibühl entfernt: Der 1904 gegründete Betrieb war berühmt für diese Spezialität, und in sie investierten wir regelmässig unser für seriösere Mensamahlzeiten gedachtes Essensgeld.

Daran muss ich denken, als ich nun an diesem Laden vorbeikomme. Er existiert noch immer, seit vier Jahren als Teil der Bäckerei Buchmann, und als deren Besitzer ihn ihrem kleinen Reich einverleibten, nahm die Familie Berner ihnen ein Versprechen ab: Die Wähen mussten im Sortiment bleiben. Man hielt Wort, es gibt sie nun sogar an den meisten Buchmann-Standorten. Aber nur hier kommen sie frisch aus dem Ofen.

Die Verkäuferinnen sind so nett wie damals, als wir uns besonders um die Wähen mit exotischen Früchten rauften. Als zuckersüsse Zeitmaschine erstehe ich nun ein Stück (Fr. 8.–), auf einer Vanillecrème sind Bananenscheiben säuberlich angeordnet und mit Fruchtgelee bestrichen, damit sie nicht braun werden. Der Teig ist prima, das Gesamterlebnis (zu) süss, und ich muss gestehen: Beim Hineinbeissen schlägt das Ganze nicht mehr ganz so himmlisch ein wie in der Teenager-Zeit. Doch mitunter verklärt die Erinnerung ja auch.

Inzwischen habe ich ohnehin die pikanten Ausführungen schätzen gelernt, wie die Zibelewaie an der Fasnacht von Basel, in dessen Dreiländereck der Begriff «Wähe» auch ins Elsass und nach Baden-Württemberg ausstrahlt, oder die Chäswähe. Was diese betrifft, für Fremdsprachige nicht ganz so zungenbrecherisch wie das Chäschüechli, gilt es hier einmal eine kleine, feine Institution im Zürcher Seefeldquartier zu würdigen.

Die 103-jährige Chäslaube, fast so alt wie die Konditorei Berner und lange von der freisinnigen Gemeinderätin Erika Bärtschi selig geführt, überzeugt auch unter dem heutigen Betreiberpaar mit der persönlichen Atmosphäre ebenso wie mit dem Angebot. Die Auswahl in der Vitrine ist prima, von Comté bis Vacherin, und zu den hausgemachten Köstlichkeiten zählt eine ausgezeichnete Käsewähe (Fr. 8.– für ein stattliches Stück), deren nahrhafter Belag so richtig nach Käse schmeckt, nicht nach Ei. Da könnte der Sommer sogar zum Winter werden, wir wären gefeit.

Chäslaube
Seefeldstrasse 27, 8008 Zürich
Sonntags geschlossen.
Telefon 044 251 81 32

Für diese Kolumne wird unangemeldet und anonym getestet und am Ende die Rechnung stets beglichen. Der Fokus liegt auf Lokalen in Zürich und der Region, mit gelegentlichen Abstechern in andere Landesteile.

Die Sammlung aller NZZ-Restaurantkritiken der letzten fünf Jahre finden Sie hier.

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