Dienstag, November 11

Der Wahlkampf in Indien war ganz auf Narendra Modi ausgerichtet, das enttäuschende Ergebnis seiner Partei ist daher auch ein persönlicher Rückschlag für den Premierminister. Für Indiens Demokratie ist das ein gutes Zeichen.

Die letzten Tage vor der Verkündigung der Wahlergebnisse hat Narendra Modi in Meditation verbracht. Nach mehr als zweihundert Auftritten im Wahlkampf zog sich der indische Premierminister in ein Heiligtum auf einer Insel an der Südspitze Indiens zurück. In der Abgeschiedenheit und Stille des Tempels wollte sich Modi ganz auf das Gebet konzentrieren. Dies hinderte ihn freilich nicht daran, sich medienwirksam in Szene zu setzen. Zahlreiche Fernsehteams begleiteten ihn auf die Insel und übertrugen live, wie er in Meditation versunken sass.

Diese Form der religiösen Inszenierung ist typisch für Modi, der wie kein anderer in Indien Politik und Religion verbunden hat. Den Wahlkampf eröffnet hat er mit der Einweihung eines umstrittenen Tempels in Ayodhya, der auf den Ruinen einer von Hindu-Fanatikern zerstörten Moschee errichtet worden war. Modi liess es sich nicht nehmen, die Zeremonie persönlich zu leiten. Schon damals warf ihm die Opposition vor, die Religion zu politischen Zwecken zu missbrauchen.

Während des Wahlkampfs schürte er gezielt die Stimmung gegen die muslimische Minderheit, die er als kinderreiche Infiltratoren schmähte. Der Opposition warf er vor, die Muslime bevorzugen zu wollen. Auch behauptete er, die Kongress-Partei wolle im Fall ihres Siegs den Tempel in Ayodhya wieder zerstören. Auf ganzseitigen Zeitungsanzeigen stilisierte er die Wahl zu einer Entscheidung zwischen seiner Regierungsallianz und den «antinationalen Kräften».

Modis Botschaft hat bei vielen Wählern nicht verfangen

Viele Beobachter waren überrascht, dass Modi im Wahlkampf so scharfe Töne anschlug. Vor der Wahl hatte er selbstbewusst auf die Erfolge seiner Regierung beim Ausbau der Infrastruktur, bei der Stärkung des Wachstums und der Digitalisierung verwiesen und das gewachsene Prestige Indiens auf der Weltbühne hervorgehoben. Als Ziel für seine Partei hatte er 370 Sitze ausgegeben. Zusammen mit seinen Verbündeten wollte er gar eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erringen, die es ihm ermöglicht hätte, die Verfassung zu ändern.

Doch schon während der Wahl, die von Mitte April bis Anfang Juni in sieben Etappen stattfand, schien Modi gespürt zu haben, dass die Botschaft bei den Wählern nicht recht verfing. Das veröffentlichte Ergebnis hat nun gezeigt, dass er mit seinen Ahnungen recht hatte: Sein Wahlbündnis hat zwar erneut gewonnen, doch es ist klar hinter den eigenen Zielen zurückgeblieben. Ohne ihre Verbündeten hat Modis Partei sogar keine Mehrheit mehr im Parlament.

Nach zehn Jahren Modi wachsen die Zweifel

Für den Premierminister ist dies ein unerwarteter Rückschlag. Zwar spielen bei indischen Wahlen lokale Faktoren jeweils eine grosse Rolle. Doch da der Wahlkampf landesweit ganz auf Modi zugeschnitten war, kann das Ergebnis nicht anders als ein Votum über den Regierungschef verstanden werden. Offenbar hat seine Darstellung vom Aufstieg Indiens besonders jene Wähler nicht länger überzeugt, deren Lage sich in den zehn Regierungsjahren Modis kaum verbesserte. Auch der aggressive Hindu-Nationalismus und die Stimmungsmache gegen Muslime verfingen nur bedingt.

Die Oppositionsallianz unter Führung der Kongress-Partei von Rahul Gandhi hat dagegen überraschend stark abgeschnitten. Mit ihrem Fokus auf soziale Themen wie den Kampf gegen Armut, Ungleichheit und Arbeitslosigkeit hat sie viele Wähler angesprochen. Das heterogene Bündnis hat sich als geschlossener erwiesen als zunächst erwartet. Das Ergebnis stärkt nun auch die Position Gandhis, der bisher als schwacher und zögerlicher Politiker galt.

Indiens Demokratie ist resilienter als befürchtet

Der Erfolg ist umso bemerkenswerter, als die Opposition im Wahlkampf deutlich benachteiligt war. Die meisten grossen Medien hat die Regierung auf Linie gebracht, kritische Organisationen der Zivilgesellschaft hat sie geschlossen, die Unabhängigkeit von zentralen Institutionen wie der Wahlbehörde beschnitten. Kritikern drohen Prozesse oder Ermittlungen der Finanzbehörden. Führende Politiker wurden festgenommen, die Konten der Kongress-Partei gesperrt.

Modi hat zwar ein Mandat für eine weitere Amtszeit erhalten, doch wird er es künftig mit einer selbstbewussteren Opposition zu tun haben. Für ihn wird es damit schwieriger, etwa die umstrittene Reform des Zivilrechts oder die Neuziehung der Wahlkreise durchzusetzen, mit der seine Partei ihre Dominanz zementieren könnte. Weitere Schritte zur Schwächung der Gewaltenteilung oder zur Einschränkung der Meinungsfreiheit werden auf verstärkten Widerstand stossen.

Manche Beobachter sahen Indien in letzter Zeit auf dem Weg in die Autokratie. Die Wahlen zeigen nun aber, dass die indische Demokratie resilienter und lebendiger ist als von manchem befürchtet. Viele Wählerinnen und Wähler sind nicht der polarisierenden Rhetorik des Premierministers verfallen und haben sich vom Populismus und dem Personenkult um Modi nicht beeindrucken lassen. Indem sie die Macht des Premierministers zurückgestutzt und die Opposition gestärkt haben, haben sie ihrem Land einen Gefallen getan.

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