Sonntag, Dezember 22

Cloé Jans vom Forschungsinstitut GfS Bern sagt, warum es wenig braucht, um Reformen der Altersvorsorge zu Fall zu bringen – und weshalb die fehlerhaften Prognosen des Bundes zu den AHV-Ausgaben einen hohen Einfluss auf die BVG-Abstimmung haben dürften.

Frau Jans, die Vorlage zur Reform der beruflichen Vorsorge ist sehr komplex. Wie gehen die Stimmbürger damit um?

Wie sich die Reform auf die Renten auswirkt, hängt von sehr vielen Annahmen, Prognosen und Berechnungen ab. Unter dem Strich sind das extrem viele Informationen. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hat wohl deshalb gesagt: «Ruft bei eurer Pensionskasse an und fragt, was es für euch bedeutet.»

Natürlich kann man das machen. Aber das ist grundsätzlich nicht die Art, nach der die Schweizerinnen und Schweizer abstimmen. Man stimmt häufig nicht nur auf der Ebene der persönlichen Betroffenheit ab, sondern auch auf einer gesellschaftlichen Ebene. Die Wähler wollen nicht nur wissen, was es für sie bedeutet, sondern auch, was es für das Land, den Staat und den Standort bedeutet.

Ist das noch so? Nach der Annahme der 13. AHV-Rente hiess es, die Bevölkerung stimme mehr mit dem eigenen Portemonnaie ab.

Ja, diese Diskussion folgte der Abstimmung im März. Doch schon im Juni gab es ein Nein zur Prämienentlastungsinitiative bei den Krankenkassen, bei der auch viele direkt finanziell profitiert hätten. Deshalb kann man das Narrativ mit dem egoistischen Abstimmen nicht mehr so ins Feld führen.

Wie sollte die Politik mit komplizierten Vorlagen umgehen?

Je mehr Dinge Teil einer Reform sind, desto mehr Angriffsfläche bietet sie. Das Gegenargument ist zwar, dass auch alle etwas bekommen. Ich wage die These: Wenn von den politischen Akteuren aus dem Parlament und der Regierung breit abgestützt das Signal käme, dass wir einen guten Kompromiss haben, würden die Wähler das auf jeden Fall mittragen. Stattdessen gibt es das Signal: Es wurde viel in die Vorlage hineingepackt, aber der Kompromiss stimmt nicht.

Ist die Schweiz noch reformfähig?

Ja – sie muss es sein. Aber Kompromisse sind immer weniger attraktiv.

Warum?

Die Leute, die hinter den Kulissen ruhig die Vorlagen zimmerten, gibt es so immer weniger. Das hört man so auch aus dem Parlament selbst. Die Öffentlichkeit ist stark medial getrieben. Die Medien funktionieren mit Polarisierung besser als mit einem Fokus auf ruhige Schaffer hinter den Kulissen.

Zahlt sich Kompromissbereitschaft politisch nicht mehr aus?

Leider zu wenig. Die Bevölkerung müsste dazu eine fehlende Kompromissbereitschaft an der Urne stärker abstrafen. Das macht sie aber nicht. Das Schweizer System ist nicht besonders gut darin, Verantwortung direkt sichtbar zu machen. Das ist in einer repräsentativen Demokratie anders. Dort wird die Regierung abgestraft, wenn es vier schlechte Jahre waren. In der Schweiz passiert das nicht, weil wir nicht nur wählen, sondern auch häufig über Sachfragen abstimmen, wobei die Koalitionen ständig ändern. Die Wählenden beurteilen die Lage von Abstimmung zu Abstimmung neu.

Der Dachverband der Arbeitgeber ist im Pro-Lager, der Branchenverband Gastrosuisse ist dagegen. Ist es selbst innerhalb der Wirtschaft unmöglich geworden, Einigkeit zu schaffen?

Dissonanzen im eigenen politischen Lager helfen sicher nicht bei der Mobilisierung. Für die Wähler ist eine solche Spaltung demotivierend.

Welchen Stellenwert haben die Parolen der Parteien?

Gerade bei komplexen Vorlagen ist man darauf angewiesen, dass man sich an den Ansagen von politischen Akteuren orientieren kann, denen man vertraut. Man weiss, dass man nie über alle relevanten Informationen verfügt, deshalb stützt man sich auf sogenannte Heuristiken, das sind Entscheid-Abkürzungen. Je grösser aber die Kakofonie innerhalb des eigenen Lagers ist, desto schwieriger wird es für die Menschen, sich zu orientieren.

Warum sind Mehrheiten in der Vorsorge so schwierig herzustellen?

Weil für viele Leute viel auf dem Spiel steht. Die Sicherung der Altersvorsorge ist eine der grössten Sorgen im Land. Es gibt schnell Stimmen, die von faulen Kompromissen oder Scheinreformen sprechen und damit Gehör bei der Bevölkerung finden. Es braucht nur eine kleine Gruppe, um das Räderwerk ins Stocken zu bringen.

Macht es das System einfach, Reformen bewusst zu blockieren?

Neben Inhalten geht es immer auch um ein Powerplay. Es geht darum, wer bei bestimmten politischen Themen die Vormachtstellung hat und für sich beanspruchen kann, die Anliegen der Bevölkerung am besten zu verstehen und vertreten.

Nehmen Blockadehaltungen grundsätzlich zu?

Wir sehen, dass das Parlament immer mehr Arbeit hat. Es gibt zunehmend mehr Vorlagen und Gesetze. Eine stärkere Polarisierung funktioniert in diesem System nicht gut. In unseren Umfragen stellen wir fest, dass die Leute einen Reformstau sehen und die fehlende Kompromissfähigkeit bemängeln. Aber natürlich muss man sagen, dass die Wähler ihren eigenen Teil dazu beitragen.

Der Stimmbürger ist ein widersprüchliches Wesen.

Ja, vor allem wenn die kollektiven Entscheide betrachtet werden.

Woran machen Sie das fest?

Sehr deutlich wird das bei Wirtschaftsfragen. Es gibt viele Leute, die es wichtig finden, dass wir unserem Unternehmensstandort Sorge tragen. Aber gleichzeitig hält man die Grosskonzerne für Abzocker und findet, dass die Wirtschaft zu wenig für die Bevölkerung tue. Das Gleiche in der Europapolitik: Man will zwar die Bilateralen, gleichzeitig aber auch die Möglichkeit, die Zuwanderung selbst zu steuern. Das sind keine Ansprüche, die einfach zu vereinen sind.

Was sind die Gründe für die Widersprüchlichkeit der Stimmbürger?

Zum einen wird jede Sachfrage im Licht der aktuellen Gegebenheiten neu beurteilt, wodurch zuweilen der Eindruck einer gewissen Willkür entstehen kann. Meinungsbildung entsteht aber nie im luftleeren Raum.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Es ist ein Unterschied, ob man über die BVG-Reform in einer Zeit abstimmt, in der Kostendruck ein permanentes Thema ist, oder in einer Zeit, in der es um die Gleichstellung der Geschlechter geht, wie 2019. Aber auch der Medienwandel spielt eine Rolle.

War die Bevölkerung früher besser informiert?

Wir haben keinen Zeitvergleich zu bestimmten Vorlagen. Wir fragen aber ab, wie gut informiert sich die Menschen zu bestimmten Themen generell fühlen. Die meisten fühlen sich gut informiert; das ist normal. Aber der Anteil derjenigen, die sagen, sie seien sehr gut informiert, nahm über die letzten zehn Jahre deutlich ab. Man agiert mehr aus dem Bauch heraus.

Die Linke ist gegen das Paket und hat das Referendum ergriffen. Ist die Nein-Seite aktiver?

Das Nein-Lager ist mit viel Energie dran. Bei der Ja-Seite spüre ich nicht denselben Schmiss.

In der Schweiz sind lediglich 13 Prozent der Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert. Politisch boxen die Gewerkschaften aber in einer deutlich höheren Liga.

Die Gewerkschaften sind ausgezeichnet organisiert und schlagkräftig, insbesondere, wenn sie mit den linken Parteien zusammenspannen. Was sie an Kampagnenleistung zu Boden bringen, ist beeindruckend. Auch strategisch sind sie gut unterwegs. Die höheren Lebenshaltungskosten, die Probleme der Vorsorge, den vermeintlichen Rentenklau – all diese Themen beackern sie seit Jahren sehr konsequent.

Haben die Gewerkschaften das Ohr näher an der Bevölkerung?

Bei der BVG-Vorlage geht es nicht nur um die Inhalte, sondern um mehr. Es wird darum gerungen, wer in der Sozialpolitik die Vorherrschaft hat. Insofern ist es ein Stellvertreterkonflikt; die Intensität des Abstimmungskampfes steht nicht im Verhältnis zur Wirkung. Nach der gewonnenen Abstimmung zur 13. AHV-Rente halten die Gewerkschaften und die Linken den Druck hoch; sie wollen die Vorherrschaft über das Thema nageln.

Haben es die Gewerkschaften momentan einfacher?

Weil viele Menschen mit den höheren Lebenshaltungskosten kämpfen oder Angst vor künftigem Kostendruck haben, ist das Narrativ der Gewerkschaften momentan zugänglicher. Hingegen finden die Firmen nicht den richtigen Dreh, um den Leuten zu zeigen, was der Wirtschaftsstandort Schweiz für sie tut.

Dann müssten die Arbeitgeber ihr Kampagnenpersonal am besten von den Gewerkschaften rekrutieren?

Es geht ja nicht nur um Kommunikation und Kampagnen, sondern auch um Inhalte. Unbestritten ist aber, dass wir uns derzeit in einem Themenumfeld bewegen, in dem Globalisierungskritik und damit auch die Kritik an der Wirtschaft lauter sind. Solche Themen werden oft global gesetzt und schwappen dann in die Schweiz über. Das war auch im Zusammenhang mit der Klimakrise oder der Gleichstellungsthematik vor einigen Jahren so – und jetzt eben auch wieder.

Was heisst das für die Wirtschaft?

Es sind in der Regel globale Themen, die den Boden dafür legen, wie wir uns in der Schweiz politisch eine Meinung bilden. Dagegen kann die Wirtschaft nicht viel machen. Es ist einfach die Kulisse, vor der wir im Moment spielen.

Stichwort Gleichberechtigung: Frauen wollten höhere Renten, höhere Sparbeiträge sind unbeliebt. Zeigt sich da nicht eine Mentalität von «Wasch mich, aber mach mich nicht nass»?

Die Frage ist, ob die Leute das Gefühl haben, sich die höheren Beiträge heute leisten zu können, um später bessere Renten zu haben. Auffällig ist die Uneinigkeit im Frauenlager. Die BVG-Reform wurde angekündigt als eine Reform für Frauen beziehungsweise für Leute mit geringen Einkommen, und das sind häufig Frauen. Nun haben wir Dissonanz zwischen dem Dachverband der Frauen, der die Vorlage unterstützt, und den linken Frauen, die normalerweise in sozialpolitischen Fragen auf derselben Ebene sind, aber diesmal eben nicht. Ich bin deshalb sehr gespannt, in welche Richtung die Frauen kippen.

Was ist Ihre Prognose?

Bis jetzt zeigen die Umfragen keine riesigen Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Aber: Die Wählerinnen und Wähler entscheiden immer kurzfristiger, und Stimmungslagen sind für die Erklärung von Abstimmungsresultaten wichtiger geworden.

In der BVG-Reform ist vorgesehen, dass die Beiträge für ältere Erwerbstätige sinken. Das erhöht ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Im Abstimmungskampf ist das aber kaum ein Thema. Was ist der Grund?

Früher konnte man bei wirtschaftsfeindlichen Vorlagen immer mit der Angst vor Arbeitslosigkeit argumentieren. Das zog immer. Diese Sorge ist in den letzten vier Jahren aber stark zurückgegangen. Wir sehen das in unserem Sorgenbarometer, welches wir seit über dreissig Jahren erheben. Während zwanzig Jahren war die Arbeitslosigkeit immer die Top-Sorge. Jetzt ist sie nicht einmal mehr in den Top 20. Stellen Sie sich das mal vor! Deshalb schlägt auch das Argument einer verbesserten Situation für ältere Arbeitnehmer nicht so an.

Wie sieht es aus mit der Umverteilung Jung zu Alt? Eigentlich soll diese durch die Reform eingedämmt werden.

Ja, und jetzt gibt es die Kompensationszahlungen für die Übergangsgeneration. Ich frage mich deshalb, zu wie viel mehr Gerechtigkeit das führt. Darum bezweifle ich, dass man die Jungen mit diesem Argument abholen kann.

Man sagt, im Zweifel lehnen die Stimmbürger eine Vorlage lieber ab.

Ja, das sehen wir immer wieder. Bei Unsicherheit belässt man die Dinge so, wie sie sind. Nur Vertrauen in die Arbeit von Regierung und Parlament kann gegen diesen «Nein-Reflex» antreten.

Ist das schweizerisch?

Die Schweiz ist das Land mit den meisten Abstimmungen. Darum haben wir hier die meisten Daten. Das Verhalten ist aber grundsätzlich sehr natürlich. Wenn man nicht weiss, welche Veränderungen auf einen zukommen, bleibt man lieber beim Alten.

Welchen Einfluss hat der AHV-Berechnungsfehler vom Bund auf die Abstimmung?

Er hat einen grossen Einfluss; das haben wir in unserer Umfrage gesehen. Nach der Kommunikation des Fehlers ist der Anteil der Befürworter deutlich gesunken. Mit dem Fehler wurde Glaubwürdigkeit verspielt. Zudem kommen Zweifel am Problemdruck auf. «Steht es wirklich so schlimm um die Zukunft der Altersvorsorge, wie alle immer sagen, oder ist das bloss Schwarzmalerei?», mögen sich die Leute nun plötzlich fragen.

Wie schlimm ist das?

Die Frage ist, ob man das wieder aufholen kann. Momentan ist der Schaden da. Die falschen Berechnungen des Bundes wirken aber noch über diese Abstimmung hinaus. Wir hatten schon bei der Heiratsstrafe falsche Zahlen im Abstimmungsbüchlein. Jetzt kommt das nochmals. In einer Zeit von Fake News, von Falschinformationen, fragt man sich, wer in der wilden See der Informationen noch der Leuchtturm der Wahrheit sein kann. Gerade in der Schweiz, wo die Regierung ein hohes Vertrauen geniesst, sind solche Irrtümer sehr problematisch.

Cloé Jans – GfS Bern, Leiterin operatives Geschäft

Die Politikwissenschafterin arbeitet seit 2014 beim Forschungsinstitut GfS Bern. Seit 2015 ist sie Projektleiterin, seit Januar 2019 ausserdem Leiterin des operativen Geschäfts und Mitglied der Geschäftsleitung. Sie schloss ihren Bachelor an der Universität Zürich im Jahr 2012 und ihren Master in Schweizer und Vergleichender Politik an der Universität Bern 2014 ab. Neben ihrer Arbeit für GfS Bern ist Cloé Jans auch als Lehrbeauftragte am Institut für Politikwissenschaften der Universität Zürich tätig.

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