Mittwoch, Dezember 25

Sie tragen arabische Vor- und hebräische Nachnamen, sind aber weder Juden noch Muslime. Die Samaritaner sind die einzigen Menschen mit palästinensischer und israelischer Staatsbürgerschaft. Kann die kleine Religionsgemeinschaft eine Brücke im Nahostkonflikt bauen?

Die Männer von Har Gerizim hasten in ihren langen weissen Gewändern über die Strasse, einige rücken noch ihre rote Kopfbedeckung zurecht. Kurz nach 11 Uhr morgens am Samstag ist die gesamte männliche Gesellschaft des kleinen Bergdorfes auf den Beinen. Ihr Ziel: die Synagoge. Dort lesen sie zwar aus der Thora, beten aber wie Muslime auf dem Boden. Gebete rezitieren sie auf Althebräisch, untereinander sprechen sie jedoch Arabisch.

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Die rund 200 Männer, die in dem Gotteshaus mit lauten Stimmen rhythmisch singen und ihre Oberkörper vor und zurück bewegen, sind Samaritaner: Anhänger einer uralten Religionsgemeinschaft, die sich vor über 2000 Jahren vom Judentum abgespalten hat. Sie tragen hebräische Nachnamen wie Cohen oder Levi und arabische Vornamen wie Hassan oder Youssef.

Die kleine Gemeinschaft der Samaritaner ist in einer einzigartigen Position in dieser von Konflikten geplagten Region. Sie sind weder Juden noch Muslime und leben in der Nähe der Grossstadt Nablus – wo sich militante Palästinenser und israelische Soldaten nahezu täglich Schusswechsel liefern. Die Samaritaner besitzen als Einzige sowohl den israelischen wie auch den palästinensischen Pass und pflegen enge Verbindungen zu beiden Gemeinschaften.

In einer Zeit, in der Gewalt und Tod den gesamten Nahen Osten überziehen, zeigen die Samaritaner, dass eine andere Zukunft möglich ist.

Die Bewahrer des israelitischen Glaubens

Abdallah Cohen empfängt vor seinem Haus in Har Gerizim, wo der 31-Jährige erst vor kurzem mit seiner Frau eingezogen ist. Ihr neues Eigenheim ist gross und weitaus herrschaftlicher als das vieler Palästinenser in Nablus, nur zehn Autominuten entfernt.

«Nachdem die Israeliten vor über 3000 Jahren aus Ägypten auszogen, haben sie sich hier niedergelassen», erzählt der junge Samaritaner. «Doch als sie das Heilige Land erreichten, spalteten sie sich in zwei Königreiche auf – Judäa im Süden und Samaria im Norden.»

Die Samaritaner sind nach ihrem Selbstverständnis die letzten Nachfahren dieses nördlichen Reiches der Israeliten. «Wir Samaritaner haben den Norden nie verlassen», sagt Abdallah Cohen. Die Juden seien hingegen ins Exil gegangen und erst nach vielen Jahrhunderten wieder in das Heilige Land zurückgekehrt. In dieser Zeit der Trennung hat sich der Glaube der Juden und derjenige der Samaritaner auseinanderentwickelt.

Auch für die Samaritaner ist die Thora das heilige Buch, doch es gibt etwa 7000 kleine Unterschiede zur jüdischen Bibel. Ausserdem anerkennen sie nur die ersten fünf Bücher Mose als Teil ihrer heiligen Schrift und halten an der althebräischen Sprache fest. Der wichtigste Unterschied ist allerdings ein anderer: «Für uns ist der Berg Gerizim, hier bei Nablus, der heiligste Ort, während es für die Juden der Tempelberg in Jerusalem ist», sagt Cohen. Daher lebten die Samaritaner noch heute hier, am Fusse des Gerizim.

Die Samaritaner nennen sich selbst «Shomronim» – die Bewahrer. Denn ihrer Ansicht nach haben die Juden den israelitischen Glauben im Exil verfälscht, während sie dem wahren Glauben des Volks Israel folgen. Über die Jahrtausende wurden die Samaritaner von fremden Mächten verfolgt, massakriert und unterdrückt – bis sie vor knapp hundert Jahren fast ausgestorben waren. Nur noch rund 150 Samaritaner soll es gegeben haben.

Heute zählt die Gemeinschaft wieder rund 800 Mitglieder. Etwa 450 von ihnen leben in Har Gerizim bei Nablus, die restlichen in Holon, einer Kleinstadt südlich von Tel Aviv in Israel. Die Glaubensbrüder und -schwestern in Holon haben sich stärker in die israelische Gesellschaft integriert. Sie würden Stück für Stück ihre Eigenheiten verlieren, heisst es in Har Gerizim.

Wenige hundert Meter vom Dorf entfernt befindet sich der heilige Berg. Vom Gipfel des Gerizim hat man einen atemberaubenden Blick auf das Tal, in dem sich Nablus befindet. Überragt wird die Stadt von einer Handvoll jüdischer Siedlungen auf den umliegenden Hügeln.

In der Bibel trägt Nablus den Namen Sichem. Der Ort gilt als Heimat von Jakob und seinen 12 Söhnen, aus denen das Volk Israel hervorging. Auch wegen dieser religiösen Bedeutung ist der Ort ein Brennpunkt im Nahostkonflikt – immer wieder kommt es rund um Nablus zu Angriffen radikaler jüdischer Siedler und militanter Palästinenser.

«Wir kommen, um Bier zu trinken»

Vor dem Eingang von Har Gerizim befindet sich ein israelischer Checkpoint, der bereits einige Monate vor Kriegsbeginn am 7. Oktober gebaut wurde. Weshalb er dort ist, wissen die Bewohner nicht. Abdallah Cohen nimmt an, dass er eingerichtet wurde, nachdem ein Palästinenser auf ein israelisches Polizeiauto geschossen hatte, das im Ort vor dem Supermarkt stand. «Das ist vorher noch nie passiert», sagt er.

Der Checkpoint ist nach 22 Uhr und am Samstag geschlossen – dann können Bewohner und Besucher nicht mehr mit dem Auto in das Dorf hinein- und hinausfahren. Es gibt allerdings einen Schleichweg, über den man das Dorf zu Fuss erreichen kann.

Später am Abend kommen Youssef, Ahmad und Baha zu Besuch –Abdallah Cohens Freunde aus Nablus. Die jungen Männer treffen sich auf dem modernen Basketballplatz des Dorfes. Über Jahrhunderte haben die Samaritaner mit den muslimischen Arabern zusammengelebt und sind bis heute gut in die palästinensische Gesellschaft integriert. Die Samaritaner besuchen Schulen und Spitäler in Nablus und machen ihre Besorgungen in «der schönsten Stadt der Welt», wie Abdallah Cohen Nablus nennt.

Dieses Mal konnten die drei Palästinenser den israelischen Checkpoint passieren. Zuvor seien sie allerdings schon einmal abgewiesen worden, erzählt Baha. «Wir hatten gesagt, dass wir herkommen, um Basketball zu spielen, wie heute auch», sagt der junge Mann mit Brille und Vollbart. Doch die Soldaten hätten sie nicht passieren lassen, ohne Begründung. «Seitdem sagen wir immer, dass wir herkommen, um Bier zu trinken», sagt Baha lachend. So würden sie von den Soldaten nicht für Islamisten gehalten.

Nablus ist eine muslimisch-konservative Stadt im israelisch besetzten Westjordanland. Während in Ramallah oder Bethlehem der Alkoholkonsum normalisiert ist, kann man hier nirgendwo Alkohol trinken – ausser bei den Samaritanern. Im kleinen «Café Paradise» im Zentrum von Har Gerizim werden Bier, Wein und Arak verkauft.

Nach dem Basketballspiel sitzen die Freunde zusammen auf der Terrasse vor Abdallah Cohens Haus, trinken Corona-Bier und rauchen. Die drei Palästinenser erzählen von den fast täglichen Razzien der Israeli in Nablus und wie sie während der zweiten Intifada aufwuchsen, als Israels Armee mit voller Härte gegen militante Palästinenser vorging. «Meine Eltern haben mir gesagt, dass mein erstes Wort ‹Panzer› gewesen sei», erzählt Ahmad, ein junger Mann mit bubenhaftem Gesicht.

Der sonst redselige Abdallah Cohen spricht an diesem Abend nur wenig. Vielleicht, weil er weiss, dass ein Journalist mit am Tisch sitzt und jede Parteinahme seinerseits eine Gefahr für die kleine Gemeinschaft der Samaritaner sein könnte.

Bei einem Treffen tags darauf stellt er klar, dass er verstehen könne, dass sowohl Palästinenser wie auch jüdische Israeli einen Anspruch auf das Westjordanland geltend machten – denn es befänden sich viele für das Judentum wichtige religiöse Stätten auf dem Gebiet. Nur die Gewalt der Siedler verurteilt er unmissverständlich. «Wir Samaritaner sind weder propalästinensisch noch proisraelisch», sagt Cohen.

Siedler mit Sturmgewehr warten neben Palästinensern

Da die Samaritaner in Har Gerizim die einzigen Menschen sind, die den palästinensischen wie auch den israelischen Pass besitzen, verfügen sie über einzigartige Privilegien. Unter anderem beliefert die israelische Post das kleine Dorf. Abdallah Cohen hat aus diesem Schlupfloch, wie er es nennt, ein erfolgreiches Geschäftsmodell gemacht.

Zusammen mit seinem Bruder hat er ein Logistikunternehmen gegründet. Palästinenser können bei ihm Güter aus Israel bestellen. Gegen eine kleine Gebühr können sie diese dann im Büro der «Gerizim Post», wie Cohens Firma heisst, abholen.

Teilweise komme es dabei zu absurden Situation, erzählt Abdallah Cohen. «Manchmal liefert die Post aus Versehen auch Pakete für die umliegenden Siedlungen zu uns», sagt er. Dann komme es vor, dass mit Sturmgewehr bewaffnete Siedler neben Palästinensern in seinem Büro stehen und auf ihre Päckchen warten. «Etwas seltsam», nennt Cohen solche Vorkommnisse.

Einige Juden lachen über die Samaritaner

Mit den Palästinensern kommen die Samaritaner gut aus. Auch im palästinensischen Nablus hört man kein schlechtes Wort über die Gemeinschaft, die einige als «die anderen Juden» bezeichnen. Doch mit den israelischen Juden habe es in den vergangenen Jahren teilweise Probleme geben, berichtet Hosni Cohen, der Onkel von Abdallah.

Der 81-Jährige hat sein Leben dem Studium der samaritanischen Geschichte verschrieben und vor über zwanzig Jahren das kleine Museum der Samaritaner in dem Ort gegründet.

«Vor etwa fünf Monaten kam eine Gruppe von 50 orthodoxen Juden zu Besuch», erzählt der alte Mann in seinem Büro, wo er barfuss vor einer Bücherwand sitzt. «Sie kamen in das Museum und machten sich über die Ausstellungsstücke lustig.» Die Juden hätten nicht akzeptiert, dass auch die Samaritaner Israeliten seien und hätten ihnen vorgeworfen, ihre Religion zu verfälschen. «Nachdem ich ihnen eine Stunde lang einen Vortrag gehalten habe, waren sie still», sagt der Museumsdirektor schmunzelnd.

Als Hosni Cohen das Museum eröffnete, waren drei Viertel der Besucher jüdische Israeli, sagt er. Heute seien es nur noch knapp 40 Prozent, neben Muslimen und Christen. Cohen glaubt, dass viele Juden nicht hören wollen, dass es eine Religionsgemeinschaft gibt, die ihrer so ähnlich ist, aber fundamentale Grundfesten des jüdischen Glaubens ablehnt – etwa die Heiligkeit Jerusalems.

Schüsse in Nablus

Tags darauf, am Samstag, sitzen Hosni und Abdallah Cohen mit ihren weissen Gewändern ganz vorne rechts in der Synagoge und rezitieren die althebräischen Gebete. Der 90-minütige Gottesdienst ist nur einer von dreien, die die Samaritaner am Samstag verrichten – der erste beginnt um 3 Uhr morgens. Vor der Synagoge verabschiedet sich Abdallah Cohen. Er hoffe, dass die wichtigste Botschaft der Samaritaner in die Welt komme: «Wir versuchen, eine Brücke des Friedens zu sein.»

In der folgenden Nacht sind Schüsse in der Altstadt von Nablus zu hören. Auf Videos in palästinensischen Telegram-Gruppen ist zu sehen, wie israelische Militärfahrzeuge ins Zentrum der Stadt fahren. Militante Palästinenser begrüssen sie mit Sturmgewehrsalven. Hoch oben über der Stadt, in Har Gerizim, haben die Bewohner davon nichts mitbekommen.

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