Tausende von Frauen kämpfen bereits an der Front. Nun wollen vermehrt auch Grossstädterinnen ihr Land verteidigen. Doch die Rollen sind in diesem Krieg weiterhin sehr ungleich verteilt.
In einem verlassenen Rohbau in einem Randbezirk der ukrainischen Hauptstadt Kiew versammelt sich an einem winterlichen Samstagmorgen eine Gruppe Frauen. In Funktionskleidung und Camouflage-Jacken bereiten sie sich auf den Ernstfall vor: den Kampf gegen russische Angreifer. Mit Schutzmasken und Luftdruckgewehr folgen die Frauen den Kommandos des Ausbildners und stellen sich in einer Reihe auf. Kurz ist es leise. Nur das Tropfen von der Decke hallt als Echo durch die kahlen Räume.
Walküren nennen sich die Mitglieder der Gruppe, inspiriert von den mythologischen Kämpferinnen. An diesem Tag sollen sie lernen, wie man ein Gebäude stürmt. «Wir müssen aufhören, in den Kategorien von Mann und Frau zu denken», sagt Natalia Ponomarjowa, eine der Teilnehmerinnen. «Die Ukraine braucht jeden, der motiviert ist zum Kämpfen.»
Die zierliche Frau, die an Werktagen in einem Theater in Kiew mit Binnenvertriebenen arbeitet, trägt eine Sturmhaube, unter der einzelne Strähnen ihres roten Haares hervorragen. Die 38-Jährige schiebt sich an der nassen Backsteinwand entlang, tippt der Frau vor ihr auf die Schulter, um ihr zu signalisieren, dass sie gedeckt wird. Dann geht sie in die Knie, duckt sich um die Ecke in den nächsten dunklen Gang und ruft «Sauber!». «Nochmals!», befiehlt der Ausbildner. Er will, dass die Formationen sitzen.
Mehr tun, als nur Geld zu spenden
In den vergangenen Jahren habe sie oft darüber nachgedacht, schiessen zu lernen, sagt Ponomarjowa, die in der ostukrainischen Stadt Slowjansk aufgewachsen ist. Dort begann der Krieg bereits im Jahr 2014. Heute ist Slowjansk eine der letzten Städte im Donbass, die noch unter ukrainischer Kontrolle stehen. Sie sei den Walküren schon länger auf Instagram gefolgt und habe im letzten Sommer die Entscheidung gefasst, zu einem ersten Treffen zu gehen, sagt Ponomarjowa. In den Frauen habe sie Gleichgesinnte gefunden, die wie sie der Ansicht seien, dass das Spenden und freiwillige Helfen nicht mehr ausreichten.
Laut Darina Trebuch, der Gründerin der Organisation, umfasst das Walküren-Netzwerk mittlerweile mehr als 7000 Frauen. Sie erlernen Kampftechniken, Führungskompetenzen und psychologische Kenntnisse, um mit schwierigen Situationen besser umgehen zu können. «Wir wissen nicht, wie dieser Krieg weitergeht», sagt Trebuch, die den Kurs aus nächster Nähe beobachtet. Nachdem die Oblast Kiew im Jahr 2022 von der russischen Besetzung befreit worden war, gründete die 38-Jährige die Gruppe mit dem Ziel, Frauen beizubringen, wie man sich verteidigt. «Jeder in diesem Land muss dazu in der Lage sein», erklärt sie.
Nicht alle Walküren wollen kämpfen und sich der Armee anschliessen. Aber jede einzelne will nützlich sein und ein besseres Verständnis für jene entwickeln, die an der Front stehen. Trebuchs Partner kämpft seit Beginn der russischen Invasion an der Front und ist derzeit bei Kupjansk in der Oblast Charkiw stationiert. Wann sein Einsatz endet, ist ungewiss. Um jene an der Front zu entlasten, braucht die ukrainische Armee mehr Soldaten. Vor kurzem bezifferte Präsident Wolodimir Selenski die Verluste allein auf ukrainischer Seite auf mehr als 43 000 Gefallene und mindestens 370 000 Verwundete. «Es wird eine Zeit kommen, in der wir alle kämpfen werden», sagt Trebuch. «Aber wir können nicht alle zur selben Zeit an der Front sein.»
Sexismus und Vorurteile
Gerade in den vergangenen Monaten, in denen die Schwierigkeiten bei der Mobilisierung von Männern immer offensichtlicher wurden, da sich viele vor der Einberufung drücken, haben sich laut Katerina Primak immer mehr Frauen für den Einsatz an der Front vorbereitet. Primak leitet die Organisation Weteranka in Kiew, die sich für die Rechte von Soldatinnen und Veteraninnen einsetzt. «Derzeit gehören Frauen in der Armee zu jenen mit der grössten Motivation, denn sie müssen nicht kämpfen, sondern sie wollen.» Doch das bedeute nicht, dass die Gleichberechtigung von Frauen und Männern bereits erreicht sei.
Immer wieder berichten Betroffene von Sexismus, Vorurteilen und Ungleichbehandlung. «Viele Männer glauben, dass eine Frau beschützt werden müsse, selbst wenn sie an der Front kämpfe», sagt Primak. Dass die Anliegen von Frauen auf staatlicher Seite auch nach bald drei Jahren Krieg keine Priorität hätten, zeige sich etwa daran, dass passende Uniformen, Schuhe oder passende Unterwäsche für Soldatinnen noch immer zum grössten Teil von zivilgesellschaftlichen Gruppen wie Weteranka beschafft würden. «Zum Überleben an der Front sind Waffen nötig, aber zum Kämpfen braucht es eben auch die richtige Ausrüstung, vor allem im Winter», argumentiert Primak.
Zwar zeigt der zunehmende Einbezug von Frauen ins Militär einen kulturellen Wandel, der in vielen Ländern zu beobachten ist. Doch laut der Politologin Jessica Trisko Darden, die an der Virginia Commonwealth University unterrichtet und sich in den vergangenen Jahren immer wieder mit der Rolle von Frauen in der ukrainischen Armee befasst hat, sind Soldatinnen seit Beginn der russischen Invasion ein wichtiger Teil der ukrainischen PR-Strategie. «Wir beobachten, dass die Medien und die Regierung einem bestimmten Narrativ von Frauen als Heldinnen folgen, das die Selbstermächtigung in den Mittelpunkt stellt, die wir in unserer westlichen Vorstellung sehen wollen», sagt Darden im Gespräch.
Nach offiziellen Angaben dienen mittlerweile 67 000 Frauen in der ukrainischen Armee, 48 000 von ihnen in einer militärischen Funktion. Seit 2016 ist es Frauen gesetzlich erlaubt, auch Kampfrollen zu übernehmen. Während Frauen in Kriegszeiten mehr Sichtbarkeit erlangen und Schlüsselrollen in früher männerdominierten Domänen einnehmen – etwa in der Industrie oder in der Armee –, kann sich laut Darden die Lage nach einem Ende des Krieges schnell in die andere Richtung entwickeln. «Aus Konflikten auf der ganzen Welt wissen wir, dass Frauen in Kriegszeiten zwar mehr Möglichkeiten haben», sagt die Politologin. «Diese schwinden aber nach Kriegsende schnell wieder, und es gibt eine Rückkehr zu traditionellen Rollenbildern.»
Die Rollenverteilung bleibt ungleich
Sollte der Krieg irgendwann enden, kämen auf die Gesellschaft neue Probleme zu, sagt Katerina Primak. Denn die Pflege von Familienangehörigen und die Kindererziehung liegen noch immer klar bei den Frauen. «Jetzt haben wir eine Situation, in der Frauen sich für die männlichen Soldaten einsetzen, sie unterstützen, pflegen und versorgen, vor allem dann, wenn sie traumatisiert und verwundet heimkehren», sagt die 31-Jährige. «Aber das Umgekehrte, dass Männer sich mit derselben Selbstverständlichkeit um die Frauen kümmern, die von der Front zurückkommen, zeigt sich noch nicht.»
Wird die Zukunft von Natalia Ponomarjowa, der jungen Kursteilnehmerin bei den Walküren, folglich genau so aussehen? Für sie ist die Armee mittlerweile eine klare Option. Sie kennt mehr als zwanzig Männer – Onkel, Freunde, Bekannte –, die an der Front kämpfen. «Auch wir Frauen müssen unseren Beitrag leisten und lernen, wie man Kampfdrohnen einsetzt oder Verletzte versorgt», sagt Ponomarjowa. Das Wichtigste sei für sie in diesem Moment jedoch eines: sich nicht länger schwach und verletzlich zu fühlen.