Montag, September 30

Im Wallis ist man sich einig: Das Raclette wurde hier kreiert. Dabei könnte die Schweizer Spezialität genauso gut in der Urschweiz entstanden sein.

Im Wallis wird das Raclette traditionell im Sommer gegessen, und in diesen Tagen besonders viel. Denn das Raclette war der Fokus mehrerer grosser Anlässe im Kanton. Im Ort Bagnes etwa, der sich als Hauptstadt des Raclettes bezeichnet, wurden am Sonntag Kühe mit Blumen geschmückt, Trachten angezogen, Wein ausgeschenkt – und ganz viel Käse gestrichen.

Gefeiert haben die Walliser den 450. Geburtstag des Raclettes, angeblich das Jubiläum ihrer Kreation. Seit Jahren kämpfen die Walliser darum, als Erfinder der berühmten Käsespezialität anerkannt zu werden. Vergeblich.

Raclette ist jung, geschmolzener Käse alt

Der Begriff Raclette existiert erst seit etwas mehr als 100 Jahren. Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich der Name etabliert, angelehnt an das französische Wort «racler», das auf Deutsch schaben bedeutet.

Käse geschmolzen wird in der Schweiz gemäss Schriftquellen schon viel länger, und zwar nicht nur im Wallis. In Handschriften des Klosters Muri im Kanton Aargau ist zu lesen, dass in Unterwalden bereits im 12. Jahrhundert Käse über dem offenen Feuer gebraten wurde. Die Ob- und Nidwaldner nennen den geschmolzenen Käse «Bratkäse», die Welschen auch «fromage rôti». Bereits Wilhelm Tell soll sich an einem solchen Bratkäse gestärkt haben, so die Überlieferung.

Im Wallis wird der geschmolzene Käse im 16. Jahrhundert erstmals schriftlich erwähnt. Der Sittener Apotheker Kaspar Ambühl beschrieb in einem Brief an den Zürcher Arzt Konrad Gessner, wie er über einem Feuer aus Rhododendren «schmackhaften Käse» geschmolzen habe. Die Walliser nehmen diesen Brief zum Anlass, um den Ursprung des Walliser Raclettes zu feiern. Doch wann Ambühl den Brief genau verfasst hat, ist nicht überliefert.

Historiker sind sich einig, dass der Brief älter als 450 Jahre sein muss. Denn Ambühl starb im Jahr 1561. Das liegt bereits 463 Jahre zurück. Warum aber feiern die Walliser genau dieses Jahr den 450. Geburtstag?

Da der Brief nicht datiert ist, behelfen sich die Walliser mit dem Publikationsdatum jenes Werks, das Ambühls Brief öffentlich machte: der «Vallesiae descriptio» von Josias Simler. Der wissbegierige Theologe hatte 1574 ein umfassendes Werk über den Kanton Wallis veröffentlicht und im Anhang auch Ambühls Brief an Gessner angeführt. Doch auch mit diesem Werk wird der Walliser Ursprung nicht belegt.

Bis heute lebt der Mythos – auch dank den Käsern

Selbst im Wallis gibt es darum Zweifler. Der Historiker Philippe Bender sagte der Walliser Zeitung «Le Nouvelliste» vor kurzem, das Raclette könne «in Tirol ebenso wie in Savoyen» aufgetaucht sein, da die Speise im ganzen Alpengebiet verbreitet sei. Geht es um ihr Raclette, glauben viele Walliser jedoch lieber ihren Käsern als den Historikern. Als besonders vertrauenswürdig gilt etwa Eddy Baillifard. Der Käser und Gastronom aus dem Val de Bagnes gilt als «Raclette-Papst» und als Referenz, wenn es um die Geschichte des Raclettes geht.

Die Feierlichkeiten zum runden Geburtstag nutzte Baillifard, um die Legende um den Oberwalliser Hirten Léon zu verbreiten. Léon habe im 12. Jahrhundert das Raclette entdeckt, als er aus Versehen seinen Käse zu nahe am Feuer stehen gelassen und sich den geschmolzenen Käse aus der Not auf ein Brot gestrichen habe, so die Erzählung.

«Alle grossen Rezepte sind aus einem Unfall entstanden», sagte Baillifard dem «Le Nouvelliste». Belegt ist diese Erzählung nicht. Doch Baillifard ist sich sicher: Die Menschen in anderen Kantonen haben sich das Schaben des geschmolzenen Käses von den Wallisern abgeschaut. «Le Nouvelliste» titelte überzeugt: «Das Raclette ist aus dem Wallis, Bagnes ist seine Hauptstadt und Eddy sein Prophet.»

Die Walliser sind sogar vor Gericht gezogen

Obwohl die Ursprünge des Raclettes historisch nicht restlos belegt sind, wollte das Wallis den Begriff Anfang der 2000er Jahre für sich pachten. Nur noch Raclette-Käse aus dem Wallis sollte sich mit dem Namen schmücken dürfen, so das Ziel des kantonalen Milchverbands. Der Verband wandte sich an das Bundesamt für Landwirtschaft, und dieses kam dem Wunsch nach. Vorerst.

Ein grosser Teil des Schweizer Raclette-Käses stammt aus anderen Kantonen, damals wie heute. Die Schweiz stellt gesamthaft jedes Jahr weit mehr als 10 000 Tonnen von solchem Käse her, das Wallis etwa 2000 Tonnen. Der Verein Raclette Suisse, der Käsereien aus der ganzen Schweiz vertritt, wehrte sich darum 2003 gegen den Entscheid der Behörden. Ein langjähriger Rechtsstreit begann. 2007 entschied das Bundesgericht: Raclette sei die Bezeichnung für ein Gericht, nicht einer bestimmten Käsesorte. Die Walliser müssen sich mit dem Siegel «Raclette du Valais AOC» begnügen.

Eine Erfindung im Raclette-Universum können die Walliser indes zweifelsfrei für sich beanspruchen: jene des Racletteofens. 1948 liess Isidore Zufferey, ein Sittener, seinen «appareil pour la préparation des rôties de fromages, dites ‹raclettes›» patentieren. Heute ist er an jedem Dorffest vertreten, und zwar in der ganzen Schweiz. Und die Walliser tüfteln weiter.

Ein Walliser Forschungsinstitut hat 2019 einen Roboter entwickelt, der mithilfe künstlicher Intelligenz Raclette schabt. Name: Roboclette. Laut dem Institut ist der Roboter der erste weltweit, der geschmolzenen Käse streichen kann. Der Markenbotschafter ist altbekannt: der Raclette-Papst Eddy Baillifard. Neben den Mythen pflegt er, genauso wie sein Heimatkanton, auch die Innovation.

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