Dienstag, November 26

Einige Marktbeobachter hatten schon im Juni wegen der hohen Bewertung von Tech-Aktien gewarnt und lagen richtig. Sie erwarten vorerst eine Beruhigung. Doch wegen der drohenden Rezession in den USA sehen sie die Gefahr eines noch stärkeren Rückschlags ab dem Spätherbst. Aus guten Gründen.

Peter Berezin geniesst unter Vermögensverwaltern höchstes Renommee. Schon kurz nach der Finanzkrise sagte mir der Investmentchef eines der grössten deutschen Family Offices, dass er kaum eine andere Publikation so hilfreich findet wie den «Bank Credit Analyst», die seit 1949 erscheinende Monatspublikation, die Berezin seit 2010 herausgibt, nachdem er von Goldman Sachs zu BCA Research mit Hauptsitz in Montréal gewechselt war. Vor dem Kursrutsch ab Juli lag der Marktstratege erneut richtig.

Am 18. Juli konstatierte Berezin: «Der Bullenmarkt für Aktien, der im März 2009 begann, endet gerade.» Da hatte der Kursrutsch schon begonnen, angefangen mit den US-Tech-Aktien, in dessen Verlauf der Nvidia-Kurs zeitweise um 40% unter den Rekordstand stürzen sollte und der den gesamten Aktienmarkt erfasste.

Am 8. August zog der Ökonom eine vorläufige Bilanz der Börsenbewegung. Der Aktienmarkt habe einen doppelten Schlag erhalten: Erstens seien die Zweifel daran gewachsen, dass die künstliche Intelligenz schon bald das weltweite Produktivitätswachstum deutlich steigern werde. Mehr als einen Prozentpunkt mehr pro Jahr prognostizieren unter anderem Berezins ehemalige Kollegen im Economics-Team von Goldman Sachs, aber auch McKinsey und die Denkfabrik Brookings. Bislang ist das in den Unternehmensberichten noch nicht zu erkennen. Zweitens hätten schwache Daten vom US-Arbeitsmarkt Sorgen vor einer US-Rezession und einer weltweiten Wachstumsflaute geschürt.

Tech wird kapitalhungrig und ist immer noch teuer

Die schlechte Nachricht für Anleger: Berezin nennt einige bedenkenswerte Argumente dafür, dass die Sorgen der Anleger durchaus berechtigt sind. Zwar dürften die Börsenkurse sich vorerst beruhigen. «Mittelfristig geht es jedoch abwärts», warnt er.

Ein Grund für die Warnung: Die Bewertung vieler Tech-Aktien ist weiterhin sehr hoch. Die hohen Investitionen in Rechenzentren für KI-Anwendungen verändern das bisher wenig kapitalintensive (und auch deshalb so lukrative) Geschäft der Tech-Plattformen, was viele Anleger bislang ignorieren. Tech wird kapitalhungrig, es bleibt weniger Free Cashflow für Anleger.

Bei einer US-Rezession droht ein Börsenkursrutsch um 30%

Das grösste Risiko für die Börsen sieht Berezin aber nicht im Tech-Sektor, sondern in der Rezession in den USA, die Ende 2024 oder Anfang 2025 beginnen werde. «Die Ereignisse der zurückliegenden Wochen waren ein Vorgeschmack für Investoren auf das, was kommt.» Er erwartet den US-Leitindex 2025 bei 3750 Punkten. Das wäre ein Einbruch von 30% unter das derzeitige Niveau oberhalb von 5400 Zählern.

Die europäischen Indizes dürften einem US-Abschwung und dem davon ausgelösten US-Kurssturz kaum standhalten. Schliesslich stagniert insbesondere die deutsche Wirtschaft schon jetzt, obwohl vom Atlantik her noch Rückenwind weht. Für den Dax würde ein 30%-Rückgang ein Niveau von 12’500 Punkten bedeuten statt der derzeitigen mehr als 17’800 Punkte.

Berezin ist mit seiner Einschätzung nicht allein. «Der jüngste Einbruch an den Börsen hat ein Thema in den Fokus gerückt, das an den Kapitalmärkten lange Zeit nahezu vollständig ignoriert wurde: die Möglichkeit einer bevorstehenden Rezession der US-Wirtschaft», urteilt Axel Angermann, Chefvolkswirt des Vermögensverwalters Feri. Es sei an der Zeit, sich auf eine erneute Abschwächung der weltwirtschaftlichen Dynamik durch eine US-Rezession einzustellen.

Die Mahner haben gute Argumente auf ihrer Seite

Vermögensverwalter Jens Ehrhardt, der in seiner Kolumne für The Market Ende Juni vor einer Kurskorrektur bei teuren Wachstumsaktien warnte, konstatierte in einer weiteren Kolumnenfolge am 9. August: «Die Zinswende dürfte doch noch einen US-Abschwung auslösen.» Der Gründer des Vermögensverwalters DJE Kapital, der seit den 1970er Jahren am Finanzmarkt tätig ist, fühlt sich an die erste Hälfte des Jahres 2008 erinnert, als kurz vor der Finanzkrise die meisten Beobachter noch eine weiche Landung der US-Wirtschaft vorhergesagt hatten. Und 2024? Fast alle Konjunkturbeobachter hätten vergessen, dass die schärfste Bremspolitik der US-Notenbank seit den frühen 1980er Jahren immer noch wirke. Nur weil diesmal die Zeitverzögerung länger war als in den anderen Konjunkturzyklen der Nachkriegszeit, sei die Möglichkeit einer Rezession völlig abgeschrieben und allgemein nur ein «Soft Landing» eingepreist worden. Was sich nun ändern könnte.

Dafür spricht auch ein konkretes Rezessions-Warnsignal: Seit längerer Zeit waren die Renditen bei US-Staatsanleihen mit zweijähriger Laufzeit höher als die für US-Treasuries mit zehn Jahren Laufzeit. Der Finanzmarkt-Jargon nennt dies eine inverse Zinskurve. Nun liegen die Renditen für 2- und 10-jährige US-Bonds fast gleichauf nahe 4%. In der Vergangenheit habe die Rezession meist erst begonnen, nachdem die Inversion der Zinskurve geendet hatte, erinnert Ehrhardt.

Zinssenkungen beiderseits des Atlantiks können den Abschwung wohl nicht mehr verhindern. Es habe längere Zeit benötigt, bis die Hochzinspolitik sich konjunkturell negativ auswirkte, sagt Ehrhardt. Jetzt werde es auch längere Zeit keine oder nur geringe Auswirkungen einer Niedrigzinspolitik bei vielen Unternehmen und Verbrauchern geben.

Schäden im Gebälk des Finanzmarkts

Die kurzfristigen Kursbewegungen werden heute allerdings nicht mehr bestimmt von strategischen Denkern wie Berezin und Ehrhardt und ihren meist eher langfristig orientierten Kunden. Stattdessen reagieren automatisierte Handelsstrategien, programmiert von Hedgefonds und anderen spekulativen Marktakteuren, sekundenschnell auf Unternehmensnachrichten oder Konjunkturdaten. Oft folgen oder kontern sie auch einfach Kursbewegungen, so dass ein Stück weit der Kurs den Kurs bestimmt. In den teils von der KI selbst entworfenen Landkarten dieser Marktbewegungen hat der Kursrutsch seit Ende Juni tiefe Schneisen gezeichnet, welche die weitere Entwicklung beeinflussen werden.

Diese Tektonik der Märkte beobachtet Jörg Märtin, der lange Jahre als Investmentbanker für JP Morgan arbeitete und nun das Schweizer Family Office Avalon Hill Management als Anlagestratege berät. Seit Juni war er skeptisch für die Börsen, insbesondere für US-Tech-Aktien wie Nvidia. Der Kursrutsch habe markttechnischen Schaden angerichtet, stellte er Mitte August fest. Nur zwei der zehn grössten Nasdaq-100-Mitglieder befänden sich noch in einem monatlichen Aufwärtstrend (Apple und Costco, nicht aber Microsoft, Nvidia, Meta, Broadcom, Amazon, Alphabet und Tesla).

Der Kursrutsch war aber noch nicht so stark, wie es für Tiefpunkte einer Abwärtsbewegung typisch ist. «Wenn die Märkte einen Boden finden, würde ich Nvidia und Broadcom mehr als 40% unterhalb ihrer Höchststände erwarten und den Nasdaq 100 30% niedriger», sagt Märtin. Sein «best guess» dafür, wann das geschehen könne, lautet «spät im letzten Jahresviertel 2024». Derzeit ist der Nasdaq 100 in der Spitze nur etwas mehr als halb so stark gefallen.

Märtin sagt, er habe «grosse Sorgen davor, was im Oktober oder November kommen könnte». Auf Ende 2024 oder Anfang 2025 schätzt auch Berezin den Beginn der befürchteten Rezession in den USA. Bis dahin dürfte die Unsicherheit über den Ausgang und die Folgen der US-Präsidentschaftswahlen von Monat zu Monat steigen, wie zumeist in solchen Wahljahren. In der Ukraine oder im Nahen Osten ist unterdessen wenig Hoffnung auf eine Beruhigung der Lage erkennbar.

Was die drohende Korrektur für die deutsche Börse bedeutet

Von der Bundesregierung ist kaum zu erwarten, dass sie starke Impulse zur kurzfristigen Stärkung der deutschen Wirtschaft setzen wird. Zu zerstritten wirken die Koalitionspartner, ausserdem dürfte es dafür inzwischen auch bereits zu spät sein angesichts des vom Atlantik her aufziehenden Sturms.

Jüngste Konjunkturindikatoren weisen allesamt abwärts. Viele Quartalsberichte der kotierten Unternehmen lesen sich enttäuschend. Die Jahresprognose gesenkt haben seit Anfang des Monats unter anderem der Chemielogistiker Brenntag, der IT-Dienstleister GFT Technologies, der Autozulieferer Continental, der Pharmaauftragsforscher Evotec und das Telekommunikationsunternehmen United Internet.

Die genannten Marktbeobachter raten allesamt zur Vorsicht. Es könnte sich lohnen, in den kommenden Monaten mehr Bargeld auf dem Konto zu halten oder in kurzfristigen Zinsanlagen, als es die langfristige Anlagestrategie vorsieht. So könnten Anleger Verluste vermeiden und hätten Kapital für günstigere Aktienkäufe, falls die Kurse nochmals stark einbrechen sollten.

Internationale Fondsmanager schichten bereits Kapital aus Aktien in Bonds und Cash um. Relative Sicherheit bieten auch die Aktien von Pharmaunternehmen, von denen einige Wachstumschancen zu attraktiven Bewertungen versprechen. Dass viele Anleger bereits in die Defensive gegangen sind, zeigt auch die Liste der Gewinner und Verlierer im Dax während des Kursrutsches der vergangenen vier Wochen. Manche Zykliker wirken inzwischen zu stark abgestraft und unterschätzt, wie BMW oder Heidelberg Materials. Insgesamt jedoch könnte sich die Risikoaversion schon in einem halben Jahr auszahlen.

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