Montag, Oktober 28

Erstmals seit Jahrzehnten gibt die «Washington Post» keine Wahlempfehlung für das Rennen um das Weisse Haus ab. Der Aufruhr ist gross. Der Besitzer der Zeitung, Amazon-Gründer Jeff Bezos, steht in der Kritik, sich vor Donald Trump in den Staub geworfen zu haben.

Seit 1976 empfahl die «Washington Post» ihren Lesern fast immer einen Kandidaten zur Wahl für das Amt des Präsidenten. Es handelte sich stets um einen Demokraten. Vor acht Jahren schrieb die Redaktionsleitung der Traditionszeitung über Hillary Clinton: «Wir empfehlen sie, ohne zu zögern.» Und vor vier Jahren hiess es über Joe Biden: «Er würde den Anstand, die Ehre und die Kompetenz der amerikanischen Regierung wieder herstellen.»

Nun aber informierte am Freitag der Geschäftsführer der «Post», William Lewis, die Leserschaft über eine überraschende Entscheidung: «Wir kehren zu unseren Wurzeln zurück.» Wie es vor 1976 mit einer Ausnahme üblich gewesen sei, werde seine Zeitung bei diesen und künftigen Präsidentschaftswahlen keine Empfehlungen abgeben. «Wir sind uns bewusst, dass dies auf unterschiedliche Weise aufgefasst werden kann: als stillschweigende Empfehlung für einen Kandidaten oder als Verurteilung eines anderen oder als Verantwortungslosigkeit.» Aber dem sei nicht so. Die Entscheidung stehe im Einklang mit den Werten der Zeitung. «Wir sehen es als Beweis des Vertrauens in die Fähigkeit unserer Leser, sich ihre Meinung darüber selbst zu bilden.»

Grosser Unmut innerhalb der Redaktion

Die Redaktion scheint diese Auffassung des Geschäftsführers jedoch keineswegs zu teilen, mindestens ein Redaktor kündigte. Zwei für die Medienberichterstattung zuständige Journalisten der Zeitung verfassten am Freitag einen eigenen Artikel zum Thema. Laut diesem existierte in der Redaktion bereits ein Entwurf, um die Demokratin Kamala Harris am 5. November zur Wahl zu empfehlen. Doch gemäss vier informierten Personen habe der Eigentümer der Zeitung, der Amazon-Gründer Jeff Bezos, die Entscheidung getroffen, keine präsidiale Wahlempfehlungen mehr auszusprechen.

Auch namhafte Redaktoren und Kolumnisten der «Post» äusserten in einer gemeinsamen Erklärung ihren Unmut. Es handle sich um einen «schrecklichen Fehler» und eine «Abkehr von den fundamentalen redaktionellen Überzeugungen der Zeitung, die wir lieben». Eine unabhängige Zeitung müsse keine Wahlempfehlungen abgeben. «Aber das ist nicht der richtige Moment, wenn ein Kandidat für Positionen steht, die direkt die Pressefreiheit und die Werte der Verfassung bedrohen.»

Der Kolumnist und aussenpolitische Experte Robert Kagan kündigte seine Zusammenarbeit mit der «Washington Post» auf. Für ihn sei dies eine einfache Entscheidung gewesen, erklärte er gegenüber CNN. «Es ist ein offensichtlicher Versuch von Jeff Bezos, sich bei Donald Trump anzubiedern mit Blick auf seinen möglichen Wahlsieg.» Der republikanische Präsidentschaftskandidat habe klar gemacht, dass er kritische Medien ins Visier nehmen werde. Auch Marty Baron, der ehemalige Chefredaktor der «Post», äusserte sich in diese Richtung. Trump habe Bezos «ständig» gedroht. In seiner ersten Amtszeit habe sich der Milliardär davon nicht beeindrucken lassen. Beim Verzicht auf eine Wahlempfehlung handle es sich nun aber um einen Akt der «Feigheit».

Staatliche Milliardenaufträge stehen auf dem Spiel

Neben seiner Zeitung und dem führenden Onlinehändler Amazon besitzt Bezos mit Blue Origin auch ein Raumfahrtunternehmen. Mit der Entwicklung von Raketen möchte er dem Trump-Unterstützer Elon Musk Konkurrenz machen. Doch dafür hängt Bezos von staatlichen Subventionen ab. Bereits vor fünf Jahren klagte Amazon gegen das Pentagon, weil dieses einen Auftrag für 10 Milliarden Dollar an Microsoft vergeben hatte. Bezos’ Anwälte argumentierten, dass Trump seine Finger im Spiel hatte. Der damalige Präsident habe «unangebrachten Druck» ausgeübt, um seinem «scheinbaren politischen Feind» zu schaden.

Zumindest ein Teil der «Washington Post»-Leser scheint das Vertrauen in die Zeitung verloren zu haben. In der Kommentarspalte zum Artikel des Geschäftsführers kündigten viele von ihnen an, ihr Abonnement zu beenden. Einer von ihnen warf der Zeitung vor, ihr eigenes Leitbild zu verraten. In dem «mission statement» steht unter anderem geschrieben: «Die Zeitung ist den Lesern und der Öffentlichkeit verpflichtet und nicht den privaten Interessen ihrer Besitzer.» Viele Leser spielten auch mit dem Leitgedanken der Zeitung: «Die Demokratie stirbt in der Dunkelheit.» So meinte ein Leser: «Ich habe mein Abo gekündigt. Die Dunkelheit nimmt zu, und die Demokratie schwindet.»

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