Freitag, September 20

Der Sommer ist vorbei, unser Nachtfalter torkelt in den Herbst und folgt den Zeichen der Zeit: Er landet draussen vor dem «Cor», einem wunderbaren kleinen Lokal in Zürich Wiedikon.

Es ist eine der letzten lauen Nächte, bevor ein Knacks wie von Zauberhand durch die Luft gehen und den Herbst einführen wird. Diese Abschiedsumarmung des Sommers kostet der Falter an einem der Tischchen aus, die in Zürich Wiedikon auf einem Trottoir stehen. Durchs offene Fenster sieht er das heimelige, warm erleuchtete Interieur der neuen spanischen Weinbar, die wie die Jahreszeiten schon immer da gewesen zu sein scheint. Es ist ein Bijou, luftig mit Bistromöbeln bestückt, die originelle Deckenlampe ist gewiss ein Designklassiker.

Kurz vor 22 Uhr weht es von drinnen die Melodie von «Malabarista del Café» heraus, einem Song des spanischen Sängers Mario Díaz. Als Malabarista betitelt man keinen schlechten Barista, sondern einen Jongleur, einen Gaukler, hin und wieder einen Dieb. Hier jedoch wird nichts gestohlen, höchstens ein bisschen Zeit, was man sich gerne gefallen lässt. Auf der bordeauxroten Tafel vor dem Eingang steht «Wine & Pintxos», was bedeutet, dass einen nebst dem Rebensaft etwas zum Picken erwartet. Schliesslich gehören in Spanien ein guter Tropfen und Tapas zusammen wie Matador und Stier. Pardon, der Vergleich ist zu blutig, erst recht für diesen Ort. «Cor» bedeutet auf Katalanisch «Herz», doch Innereien kommen hier so wenig auf den Tisch wie andere Tierprodukte. Doch dazu später.

Das Herzstück des Angebots ist die Weinkarte, allein schon die Auswahl im Offenausschank ist reichhaltig. Ein Fokus liegt auf spanischen Gewächsen, doch gibt es zum Beispiel auch einen Pinot Noir der Männedorfer Winzerfamilie Lüthi oder einen Côtes du Rhône. Der von der Begleiterin gewählte Getariako Txakolina aus der baskischen Region Txomin Etxaniz (Fr. 8.–/dl) erweist sich als Entdeckung: ein fabelhaft spritziger, aber nicht zu säurebetonter Weisser aus der wenig bekannten Rebsorte Hondarribi Zuri. Gepflegt wird hier zudem die schöne Tradition des weinbasierten Wermuts, deren Renaissance rund um den Globus vor Jahren in Barcelona eingeläutet wurde. Der mit Olive im Glas servierte rote Lustau (Fr. 8.–) aus dem Herzen des Sherry-Dreiecks ist ein Genuss: körperreich und süss-fruchtig bei leicht bitterem Abgang.

Während einige Weinpreise dem Falter etwas hoch erscheinen, sind die frisch im Haus gefertigten Tapas jeden Rappen wert, etwa die hinreissenden Pickles (Fr. 8.–). So muss eingelegtes Gemüse sein: unerhört knackig und süss-säuerlich, ohne ins Modrige zu kippen. Die angebotenen Häppchen sind inspiriert von jenen traditioneller spanischer Weinbars, aber laut der englisch gehaltenen Website mit einem «plant-based twist»: Das «Cor» gehört zum kleinen Reich von Zineb «Zizi» Hattab, der lokalen Königin der veganen Küche.

Aufgewachsen an der katalanischen Costa Brava, führt die einstige Softwareingenieurin mit marokkanischen Wurzeln heute in Zürich drei Lokale mit einsilbigen Namen. Es begann 2020 mit dem «Kle», dann folgte das wunderbare «Dar», dessen «fried mushrooms» der Falter verfallen ist; vor gut einem Jahr kam das «Cor» hinzu, drei Gehminuten vom «Kle» entfernt, am Standort des vormaligen «Café Maximilian».

Eine Gruppe jüdisch-orthodoxer Buben mit Zapfenlocken flitzt auf Trottinetten vorbei, alle mit Plastiksack am Lenker, während sich der Falter der nächsten Köstlichkeit widmet: Das «katalanische Brot mit Tomaten» (Fr. 8.–) klingt auf Katalanisch interessanter («pa de vidre amb tomàquet») und entfaltet im Mund seine Qualitäten: Das «pa de vidre», eine Art Baguette, ist so stark geröstet, dass es gerade noch als nicht verkohlt gelten kann, und mit einem Tomatenbelag von kühner Salzigkeit bestrichen. Die Kombination von Grenzwertigkeiten begeistert. Da kann — äxgüsi, cari amici! — die Bruschetta einpacken. Und der Falter nimmt sogar in Kauf, dass die Bedienung nur englisch spricht.

Die Darbietung des «Cor» überzeugt also, bis aufs Dessert. Das «Joghurtsorbet mit Kamillenhonig, Olivenöl und Walnüssen» (Fr. 9.–) ist ein Beispiel dafür, dass vegane Imitation selten funktioniert: Es kommt bei weitem nicht an die Frische und die Geschmeidigkeit eines echten Joghurteises heran. Aber so sind halt die Zeichen der Zeit, die auch das stille Örtchen offenbart: An beiden WC-Türen steht auf roten Schildern «Gender-free Toiletten». Die Gefährtin des Falters klagt verständlicherweise, sie möge sich nicht genderneutrale WC-Schüsseln mit fremden Männern teilen. Ach, das Gebot der Inklusion treibt mitunter seltsamere Blüten als die Exklusion tierischer Produkte.

Weinbar Cor
Weststrasse 112, 8003 Zürich.
Sonntag bis Dienstag geschlossen.
Telefon. 044 548 10 33

Der Nachtfalter ist stets unangemeldet und anonym unterwegs und begleicht am Ende stets die Rechnung. Sein Fokus liegt auf Bars in Zürich, mit gelegentlichen Abstechern in andere Städte im In- und Ausland.

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