Elvira Herzog ist die neue Nummer 1 im Schweizer Tor. Wie formt man eine junge Spielerin mit Potenzial zum Rückhalt des Teams?
Als Nadine Angerer im März beim Schweizer Nationalteam als Goalietrainerin unterschrieb, erlebte sie einen kleinen Kulturschock. Die Deutsche war Weltmeisterin und Weltfussballerin gewesen und hatte in den vergangenen zehn Jahren in den USA trainiert. Die Goalies, mit denen sie arbeitete, wollten nicht bloss die Nummer 1 ihres Teams werden. Sie wollten die Nummer 1 der Welt sein. In der Schweiz hörte Angerer dann Sätze wie: «Jetzt schauen wir einmal, wie es wird.»
Angerer machte sich daran, den Schweizerinnen ein Stück Siegermentalität einzuflössen. Die Hauptfiguren: drei talentierte, junge Goalies, die noch keine oder nur eine Handvoll Länderspiele bestritten hatten. Der Zeitraum: knapp anderthalb Jahre bis zur Heim-EM. Die Goalieposition im Nationalteam war eine Baustelle, da Gaëlle Thalmann nach der WM 2023 und 109 Einsätzen für die Schweiz zurückgetreten war.
Acht Monate später ist das Fundament geschaffen, wie Angerer sagt, die Nummer 1 bestimmt. Elvira Herzog soll die Schweiz an der EM anführen. Die 24 Jahre alte Zürcherin ist Stammspielerin beim Bundesligisten RB Leipzig und sagt, die Ernennung sei die grösste Ehre, die sie je erfahren habe.
Doch wie wird aus einer Spielerin mit Potenzial der Rückhalt eines Teams? Nadine Angerer sagt: «Ich möchte, dass die Torhüterin die Seele des Spiels wird. Dass sie nicht einfach hinten drinsteht und kommentiert, sondern präzise Anweisungen gibt.» Und vor allem: «Dass sie verbal den Mut und das Selbstvertrauen hat, das Team mitzureissen. Auch einmal auf den Tisch haut.» Angerer mag markante Charaktere, sie selber wurde von früheren Gegenspielerinnen als «furchteinflössend» beschrieben.
Ein solches Standing erlangt man nicht über Nacht. Noch immer seien die Schweizerinnen etwas zu lieb, sagt Angerer. Doch Elvira Herzogs Entwicklung in diesem Bereich beeindruckt sie. «Ihre Präsenz und ihr Einfluss aufs Team in den letzten Spielen waren neben ihrem Können ausschlaggebend dafür, sie zur Nummer 1 zu machen», sagt Angerer.
Die Cheftrainerin Pia Sundhage wollte die Position früh genug vor der EM im Juli klären, damit sich Herzog und ihre Vorderleute aneinander gewöhnen und eine eingespielte Defensive bilden können. Zudem kann sich so die 22-jährige Livia Peng, die bei Werder Bremen in der Bundesliga spielt, mit ihrer Rolle als Ersatzspielerin auseinandersetzen.
Dass Herzogs Patzer so oft Thema waren, überraschte Angerer
Es ist beachtlich, dass Herzog heute selbstbewusst als Nummer 1 hinstehen kann. Neben starken Auftritten sorgten ihre Patzer immer wieder für Gesprächsstoff. Darüber staunte Angerer, die ohne Vorwissen in die Schweiz gekommen war. «Elvira tat mir wirklich leid. Das macht etwas mit so einer jungen Spielerin.» Angerer bemerkt in der Schweiz auch im Training eine Kultur der Fehlervermeidung. «Was ist das für eine Kultur, bloss keinen Fehler machen zu wollen?», fragt sie. Sie musste die jungen Schweizerinnen ermutigen, ohne Angst Dinge auszuprobieren und die eigenen Grenzen zu erkunden.
Herzog begegnet den Patzern mit Mentaltraining: Sie lernte, in wichtigen Momenten des Spiels weder in der Vergangenheit steckenzubleiben, noch zu stark auf die Zukunft zu schauen. Als sie 2023 nicht für die WM aufgeboten wurde, sei das hart gewesen. «Aber ich habe die Pause genutzt, um physisch und mental einen Schritt vorwärts zu machen.»
Nadine Angerer war eine gute Schauspielerin, als sie noch aktive Fussballerin war. Sie konnte hervorragend verstecken, wenn sie aufgeregt war. «Ich weiss, wie man nervösen Torhüterinnen hilft, dennoch selbstbewusst zu sein.» Wie geht das, wenn man eine so hohe Niederlage verarbeiten muss wie das 0:6 am Freitag gegen Deutschland? Und am Dienstag so starke Gegnerinnen wie die Engländerinnen warten? Die Technik müsse so gut sein, dass die Torhüterin in hektischen Situationen darauf zurückgreifen könne, sagt Angerer.
Im Training konfrontiert Angerer ihre Torhüterinnen deswegen ständig mit Situationen, in denen sie nicht wissen, von wo der Ball kommt. Dann müssen sie richtig entscheiden – und dabei die richtige Technik anwenden. «So baue ich im Kopf Muster auf, die im Spiel dann automatisiert sind.»
Angerer und die zweite Goalietrainerin, Patricia Gsell, tauschen sich intensiv mit den Klubtrainern der Spielerinnen aus. Sie wollen nicht nur ein umfassendes Bild der Athletinnen gewinnen – was beschäftigt sie abseits des Platzes, wie geht es ihnen? Sie arbeiten auch gemeinsam an den Schwächen der Spielerinnen.
Bei Elvira Herzog und ihrem Klub RB Leipzig ist das Michael Gurski, der eng mit dem Head of Global Goalkeeping von Red Bull zusammenarbeitet. Gurskis Mission: ein völlig neues Goalietraining für die Frauen zu entwickeln. Diese Position wurde im Frauenfussball lange vernachlässigt. Während sich das Feldspiel rasant verbesserte, lösten die Leistungen im Tor noch bis vor ein paar Jahren Kopfschütteln aus – oder gar Spott.
Die Frauen-Goalies sind im Schnitt fast 20 Zentimeter kleiner als die Männer
Das lag einerseits an den Strukturen. Auch Angerer, die in Deutschland und damit einer Torhüternation aufwuchs, hatte lange keinen festen Goalietrainer. «Da hiess es: Kickt euch gegenseitig ein bisschen warm», erinnert sie sich. Zudem erkannte man, dass sich das Torhüterspiel nicht einfach aus dem Männerfussball übernehmen lässt. Das Tor ist genauso gross wie bei den Männern, doch bei den letzten Weltmeisterschaften waren die Frauen-Goalies im Schnitt 1,74 Meter gross, die Männer 1,92.
Das bedeutet, dass die Torhüterin das Spiel noch besser lesen muss. Früher wissen muss, was passiert. Schiesst die Gegnerin, oder gibt es einen Pass? «Das ist ein komplett anderer, gedanklich schnellerer Ablauf», sagt der Leipzig-Goalietrainer Michael Gurski gegenüber der Goalie-Plattform «Goalguard».
Ein weiteres Beispiel, das den Unterschied zum Männerfussball zeigt, ist der Schuss aus dem Strafraum aus diagonalem Winkel. Unter Druck liessen sich viele Torhüter fallen, um Zeit zu gewinnen. Gurski sagt: «Den Frauen würde das wenig bringen, weil sie nicht die Körpergrösse und Dynamik haben, einen präzisen Schuss in eine Torecke zu verhindern.» Das Ziel der Torhüterinnen ist also, hoch zu stehen, um die Torfläche zu verringern.
Nadine Angerer sieht bei den Frauen noch Schwächen bei hohen Bällen wie Flanken. Mit der Entwicklung der Schweizerinnen ist sie aber sehr zufrieden. Und auch mit dem Arbeitsumfeld hierzulande. Denn trotz Kulturschock sieht die 46-Jährige in der Schweiz ein grosses Plus: «Wir haben zwei Torhütertrainer, und beide sind Frauen. Das muss man sonst auf der Welt überhaupt einmal finden!»
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