Der Markt der Sportwetten ist weltweit explodiert. Den milliardenschweren Ligen sind die Nebenwirkungen egal, Hauptsache, der Rubel rollt. Besonders gewissenlos agieren die grossen nordamerikanischen Profiligen – etwa jene der Basketballer.

«Die Integrität des Sports steht über allem.» Adam Silver, der Präsident und Geschäftsführer der National Basketball Association (NBA), wiederholt diesen Satz wie ein Mantra, wenn er über das Thema Sportwetten spricht. Die NBA führt zudem Kampagnen zum Thema psychische Gesundheit durch. Das klingt erst einmal gut.

Doch schnell drängt sich die Frage auf: Wie viel Doppelmoral darf es sein? 167 Millionen Dollar hat die NBA, die jährlich einen Umsatz von mehr als 10 Milliarden Dollar generiert, alleine in dieser Saison durch ihre Partnerschaften mit Anbietern von Sportwetten eingenommen. Die Profis in der Liga dürfen allerdings keine Wetten auf Basketballspiele abschliessen; gerade ist Jontay Porter von den Toronto Raptors lebenslänglich gesperrt worden. Man wird in den grossen nordamerikanischen Sportligen für solche Vergehen härter bestraft, als wenn man seine Ehefrau ins Krankenhaus prügelte. Es zeugt von einem eigenartigen Verständnis von Moral.

Mit Integrität jedenfalls hat diese Handhabung wenig zu tun – Silver und der Rest des globalen Profisports lassen sich ihre Geldspeicher noch so gerne mit den Verlusten armer Schlucker füllen. Dabei waren die grossen nordamerikanischen Profiligen jahrzehntelang darum bemüht, sich einen familienfreundlichen Anstrich zu geben. Wetten galten als anrüchig, sie hatten mit Skandalen genug Schaden angerichtet. So weigerte sich die National Football League (NFL) aus Imagegründen jahrelang, in der Spielerhochburg Las Vegas schon nur ein Testspiel auszutragen.

Doch seit Sportwetten in 38 Bundesstaaten legalisiert wurden, ist die Maske gefallen. Alle haben sich mit den Buchmachern ins Bett gelegt, es ist eine Liaison, die beiden Parteien Rekordeinnahmen beschert. Das Segment der Sportwetten ist einer der am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweige der Welt.

Die NBA unternimmt viel dafür, das Geschäft anzukurbeln: Wer in diesen Tagen die Play-off-Spiele verfolgt, wird mit Werbung bombardiert. Und das nicht nur während der Spielunterbrüche: Wett-Tipps werden eingeblendet, Kommentatoren informieren live darüber, wie sich die Quoten gerade verändern. Bald wird die NBA Sportwetten in ihre offizielle App für Live-Übertragungen integrieren. Man möchte ja nicht riskieren, dass ein paar Dollar anderswohin abfliessen.

Der britische «Guardian» akzeptiert keine Anzeigen von Glücksspielanbietern mehr – und steht damit allein da

Es ist eine ebenso problematische wie verbreitete Mischung: Etliche Medienhäuser unterhalten inzwischen ihre eigenen Wett-Ableger, etwa die «Bild»-Zeitung in Deutschland, Sky in England, Fox News und ESPN in den USA. Demgegenüber steht der britische «Guardian» ziemlich allein da, der 2023 bekanntgab, ab sofort keine Anzeigen von Glücksspielanbietern mehr zu akzeptieren. Es sei unethisch, Geld von Firmen anzunehmen, deren Angebot in die Sucht oder zum Ruin führen könne.

Es ist eine Haltung, die nicht alle teilen. Diverse Legenden des Weltsports haben ihr Zahnpastalächeln gegen reichlich Entgelt an Wettanbieter verscherbelt – etwa die Fussballgrössen Lothar Matthäus und Jürgen Klopp und in Nordamerika die Eishockey-Lichtgestalt Wayne Gretzky. In der Bundesliga haben etliche Klubs Partnerverträge mit Wettanbietern, teilweise handelt es sich sogar um Hauptsponsoren. In mehreren Ländern gibt es Initiativen, die sich für eine Einschränkung der Werbemöglichkeiten einsetzen. Denn Fachleute warnen davor, dass die Sportwettenabhängigkeit «die nächste Epidemie» darstellen wird.

Die Legitimation durch Berühmtheiten und Institutionen hat jedenfalls dazu beigetragen, dass der Sportwettenmarkt rund um den Globus boomt, auch in der Schweiz und in Deutschland ist er zum Massenphänomen geworden. Man muss sich jetzt eben nicht mehr zu einem Buchmacher mit Goldkette und Bauchansatz ins Hinterzimmer schleichen, sondern kann ganz legal wetten. Gemäss dem «Glücksspielatlas» zeigen in Deutschland heute knapp 1,3 Millionen Menschen problematisches Spielverhalten. Dabei gibt es dort immerhin so etwas wie Vorschriften und Hürden: Wer ein Wettbüro betritt, muss sich ausweisen. Gesperrte Spieler können sich so nicht weiter ruinieren.

In der Schweiz ist das anders; wer will, kann an jeder Coop- oder Kiosk-Filiale 20 000 Franken auf den Eishockey-Weltmeistertitel der Schweiz oder das nächste Fussballspiel in Bolivien setzen. Es gibt keine Kontrollen, keine Einschränkungen; der Spielerschutz ist ein Hohn. Eine Sprecherin des staatlichen Monopolisten Swisslos sagt auf Anfrage, man könne leider nichts machen, so seien nun einmal die Gesetze.

Swisslos profitiert davon: 2023 erwirtschaftete das Unternehmen mit Sportwetten einen Reingewinn von 99 Millionen Franken, 11 Millionen mehr als im Jahr zuvor; der Bruttospielertrag lag bei 158 Millionen. Die Zahlen steigen kontinuierlich. Und die Dunkelziffer ist riesig – die 2019 verhängten Internetsperren für ausländische Anbieter lassen sich mit einem Klick umgehen.

Davon profitieren die Schwergewichte einer Branche, die allein in den USA einen Umsatz von 350 Milliarden Dollar pro Jahr generiert. Denise Coates, die CEO des globalen Marktführers Bet365, liess sich 2023 mit 252 Millionen Franken entlöhnen, ihr Vermögen wird auf über 5 Milliarden geschätzt.

Auf Instagram wünschen enttäuschte Spieler manchen Athleten Krebs und den Tod der ganzen Familie

Die Auswirkungen der Umverteilung des Vermögens lassen sich auch in den Untiefen des Internets erkunden. In den Instagram-Kommentarspalten von Athleten, die gerade einen Wettkampf verloren haben, öffnen sich die Abgründe der menschlichen Seele. «Die Situation ist völlig ausser Kontrolle», sagte die russische Tennisspielerin Daria Kasatkina kürzlich. Den Sportlerinnen und Sportlern wird dort ziemlich alles gewünscht: Krebs, die Auslöschung der ganzen Familie, ein Flugzeugabsturz. In überwältigender Mehrheit sind die Absender verzweifelte Glücksritter, die gerade ihr letztes Geld verspielt haben.

Natürlich verliert nicht jeder die Kontrolle über sein Spielverhalten, aber Fachleute erzählen Schauergeschichten von Menschen, die sich verschuldet und ihre Existenz ruiniert haben.

Domenic Schnoz, der Leiter des Zentrums für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte innerhalb der Schweizerischen Gesundheitsstiftung Radix, sagt: «Vielen Menschen sieht man die Spielsucht nicht an. Es sind oft joviale Personen mit gewinnender Art, die ihre Probleme überspielen können. Darin sind sie oft geübt, weil es ihnen bei der Geldbeschaffung hilft.» Schnoz sagt auch: «Es gibt noch immer zu wenig gesellschaftliches Bewusstsein dafür, wie gefährlich Spielsucht sein kann. Es ist nicht Kokain oder Alkohol, wo inzwischen jeder um die Gefahren weiss. Aber die Abwärtsspirale kann sich auch bei der Spielsucht sehr schnell drehen.»

Innert 26 Monaten 40 Millionen Dollar verloren: Es kann schnell gehen mit dem Kontrollverlust

Dafür gibt es unzählige, teilweise prominente Beispiele. In der Schweiz gab es den Fall eines langjährigen Eishockey-Nationalspielers, der vor einigen Jahren seine Meister-Medaille auf einem Anzeigenportal verscherbelte, weil ihn die Spielsucht das ganze Vermögen gekostet hatte. In den USA ist gerade die Geschichte eines Japaners publik geworden, der als Übersetzer für den weltbesten Baseball-Profi Shohei Ohtani arbeitete. Der Übersetzer verlor innerhalb von 26 Monaten 40 Millionen Dollar und bediente sich an den Konten Ohtanis, um mit neuem Geld alte Verluste zurückzugewinnen.

Es ist ein Teufelskreis, den jeder Spieler kennt. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Glücksspiel auf das Belohnungssystem des Körpers eine ähnliche Wirkung hat wie Drogen: Es wird Dopamin ausgeschüttet. Bei knapp verlorenen Wetten sogar besonders viel. Das macht das Aufhören schwierig.

Der erwähnte Übersetzer gehört zu einem Risikosegment: Männer, die entweder selbst sportlich aktiv sind oder enge Berührungspunkte zu diesem Kosmos haben. Es ist eine Bevölkerungsgruppe, die besonders oft der Illusion erliegt, durch Fachwissen über einen Vorteil zu verfügen. Gerade bei jungen Fussballern stellen Experten solche Tendenzen fest. Dabei gilt auch bei den Sportwetten die alte Casino-Regel: «The House Always Wins.»

Wobei man das Bonmot im Jahr 2024 eigentlich ergänzen müsste: Es sind nicht nur die Buchmacher, die absahnen, sondern auch die häufig bereits milliardenschweren Klubbesitzer im modernen Sport. Eine Studie der Universität von Buffalo kam schon vor zehn Jahren zum Schluss, dass Glücksspiel keinen neuen Reichtum schafft. Sondern nur noch mehr Geld von arm zu reich umschichtet, weil sozial schwächer gestellte Personen besonders anfällig für die Verführungen dieses Lasters sind.

Der NBA-Chef Adam Silver und seine Copains an den Schalthebeln der Macht wissen das ganz genau, es interessiert sie aber nicht. Ihre einzige Integrität ist die gegenüber dem Dollar.

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