Montag, November 18

Im postum erschienenen Roman «Frankfurt Paris Frankfurt» schreibt sich Peter Kurzeck den Rausch schöner Zeiten von der Seele. Die hochprozentigen Getränke sind dabei tägliche Abwege.

Drei Uhr früh auf einer Landstrasse in der Nähe von Paris. Plötzlich kommt aus der Finsternis ein unbeleuchtetes Auto und hält, ohne zu bremsen, auf einen grossen Opel zu. Man hört den Knall schon, bevor es wirklich kracht. Als sich die Wagen unschön verkeilt haben und es wieder still ist, steigen die beiden Fahrer aus und schütteln einander aus Verlegenheit die Hände. Mitten auf der Kreuzung, «wie nach einem fairen Kampf».

Liest man Peter Kurzecks aus dem Nachlass herausgegebenen Roman «Frankfurt Paris Frankfurt», möchte man immer rufen: Was für Zeiten! Was für Zeiten, in denen die am Unfallort schliesslich eingetroffenen Polizisten den dunkel durch die Nacht fahrenden Delinquenten beim Protokollieren immer wieder wecken müssen. Er ist stockbetrunken, aber das scheint die Amtsorgane wenig zu kümmern. Man ist in Frankreich, und der gute Mann heisst auch noch Jean Paris.

In der Zeit des RAF-Terrors und des Deutschen Herbstes

Der vor elf Jahren verstorbene Peter Kurzeck hat wenig erfunden. Er hat sein eigenes Leben romanhaft nacherzählt, weil es ihm im Erleben schon wie ein Roman erschienen war. Auf zwölf Bände war der Zyklus «Das alte Jahrhundert» angelegt. Von diesen sind, zum Teil erst nach dem Tod des Autors, bisher acht erschienen. Dass jetzt im «Parisroman», wie Kurzeck ihn nannte, Szenen aus den wilden siebziger Jahren nachzulesen sind, ist ein grosses Glück. Hier schreibt sich einer den Rausch schöner Zeiten von der Seele. Ein Delirium des Empfindens und Schauens, in dem auch der Alkohol eine nicht geringe Rolle gespielt hat.

«Mitten in unserem Leben sitzen wir und sehen uns sitzen und rauchen und trinken», schreibt Peter Kurzeck über das Jahr 1977. Mit seiner Freundin Sibylle ist Kurzecks Alter Ego gerade aus der hessischen Provinz nach Frankfurt gezogen. Man wohnt unterm Dach, und der Schriftsteller versucht Ordnung ins Chaos seiner Notizen zu bringen. Der erste Roman soll fertig werden. Bei Suhrkamp interessiert sich ein Lektor dafür. Schon die Wege in den Verlag sind mit Schnäpsen gepflastert. Dieses Laster trägt die Namen Korn oder Rum, aber da sind auch noch Sibylle, Doris, Pascale und Edelgard. Ihre Röcke so kurz wie die Nächte. Der da erzählt, ist ein Voyeur seiner eigenen Vergangenheit. Ausreichend sentimental, aber auch nachträglich noch wachsam.

Mit dem Roman «Frankfurt Paris Frankfurt» sind wir in der Zeit des RAF-Terrors und des Deutschen Herbstes, der mit der Entführung und Ermordung des Wirtschaftsfunktionärs Hanns Martin Schleyer einen Höhepunkt erreicht. Die Polizei ist überall und kontrolliert den Schriftsteller und seine Freundin oft. Mit seinem verbeulten alten Opel ist er ein fahrender Verdachtsfall, und das heisst: An die Wand stellen. Mit der Waffe bedrohen. Leibesvisitationen. Auch in Gegenwart von Kindern.

Freund Jürgen, «den der Staat von früh aus beharrlich verfolgt hat», wird es in Frankfurt zu ungemütlich. Er geht nach Paris. Hier spannt sich die Kurzecksche Road-Novel auf, die dem Roman den Titel gibt. Man hat kaum Geld für Benzin, aber fährt tapfer aus Frankfurt ins Nachbarland, um dort bohémienhaft darüber nachzudenken, was aus einem werden könnte, wenn man denn wollte, dass etwas aus einem wird. Das Buch beschreibt auch ein Wiedereintauchen in die Vergangenheit. 1961, mit achtzehn Jahren, erlebte der spätere Autor seine französische Initiation. Für drei Wochen im 17. Arrondissement von Paris. Ein Zimmer im fünften Stock, mit den klassischen Fenstern bis auf den Fussboden. Freiheit. «Beinah als ob man schon in der Luft sitzt.» Die Fahrten nach Paris sind immer wieder Heimkehr. Später wird sich Peter Kurzeck im Süden Frankreichs ansiedeln.

Was Kurzeck wie kein anderer kann: aus bewegten Zeiten Stillleben schaffen. Seine Romane sind in knappen Sätzen geschrieben, die oft auch ohne Verb auskommen müssen, in atemlosen Aufzählungen des Glücks und auch der Trauer. Die Dinge müssen benannt und damit in ihrer Existenz geadelt werden. Das Schattenspiel der Baumzweige, die Hände der polnischen Kneipenbesitzerin, das Schwanken der Betrunkenen und Gerüche aller Art. «Die Gerüche: jedem einzelnen nach, ihn kosten, schmecken, nachschmecken! Ihm hinterdreingrübeln und sich dazu aus dem Gedächtnis das eigene Leben, Durst, Hunger, die Lust und die Wörter und Bilder zusammensammeln, so geht es, so kannst du uralt werden.»

Verschwörung gegen das Bürokratische

Der 1943 im sudetendeutschen Böhmen geborene Peter Kurzeck ist der Proust einer bestimmten Zeit. Mit seinem euphorischen Blick wird das Ich Teil einer Verschwörung gegen das Banale und Bürokratische, gegen die gefühlte Last, unter der Deutschland nach dem Scheitern der Achtundsechziger-Utopien leidet. Bevor er sich für ein Leben als freier Schriftsteller entschieden hat, war Peter Kurzeck Personalchef bei der US Army in Deutschland. Nachdem er mit dieser Form der bürgerlichen Ordnung gebrochen hat, arbeitet er gegen das Chaos an. Gegen die Zettelberge auf seinem Tisch und gegen das Sichverzetteln: «Bruchstücke, immer nur Bruchstücke.»

Die hochprozentigen Getränke, von denen in «Frankfurt Paris Frankfurt» beinahe schon obsessiv die Rede ist, sind tägliche Abwege, aber auch Umwege zum Schreibplatz hin. Mit einer Mischung aus Neid und Abscheu beobachtet der Autor das funktionierende Leben anderer. Der junge Mensch, der ihm in Frankfurt die Wohnung überlässt, versteht sich als Linker. Das hält ihn allerdings nicht davon ab, kapitalistischen Unternehmergeist zu entwickeln und in diesen siebziger Jahren ein Vermögen zu machen. Schön in Kurzecks Buch ist auch die Schilderung der Parkplatzsituation beim Suhrkamp-Haus, wo die Limousine des Verlegers Siegfried Unseld steht. Neben Kurzecks altem Opel «gross ein neuer Jaguar, als ob er mit seinem Lack tückisch lächelnd auf Blechschäden lauert».

Mit jedem Buch, das aus dem Nachlass erscheint, wird klarer, was der deutschen Literatur seit dem Tod Peter Kurzecks fehlt. Die barometrische Unruhe, mit der hier der Luftdruck Deutschlands beschrieben wurde. Die privatistische Selbstvergessenheit, die immer auch ein politisches Ahnen war. Als er eines Oktoberabends durch Frankfurt nach Hause geht, fällt dem Schriftsteller der Titel zu einem Roman ein, den er noch schreiben möchte: «Die Idylle wird bald ein Ende haben!» Das Buch bleibt ungeschrieben, und mit der Idylle ist es damals schon vorbei.

Peter Kurzeck: Frankfurt Paris Frankfurt. Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2024. 288 S., Fr. 40.90.

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