Samstag, März 15

Zu seinem 70. Geburtstag erscheinen zwei neue Bücher von Rainald Goetz. Man bekommt alles von seinem fiebrig irrlichternden Ich – und es nervt ganz ausserordentlich.

Vor neun Jahren, als Rainald Goetz den berühmten Büchnerpreis bekam, war der Altersflash plötzlich da. Büchner, das sei doch Jugend, sagte Goetz in seiner Dankesrede. Aber die Akademie, die den Preis vergibt, sei das Gegenteil davon. Mit 61 Jahren war der Schriftsteller in der modrigen Arriviertheit des deutschen Literaturbetriebs angekommen. Für sein Gefühl viel zu früh. Manche sahen das anders und hätten ihm den Preis schon viel früher gewünscht.

Seit seinem 1983 erschienenen Roman «Irre» hetzt Rainald Goetz durch die Zeiten. Er hat ein Doppeldoktorat als Arzt und Historiker im Gepäck und viele Ich-Geschichten. Dass er sich am Anfang seiner Karriere, beim Bachmann-Wettbewerb lesend, vor laufenden Kameras die Stirn zerschnitten hat, gehört zu den Ritualen, mit denen Goetz seine Texte beglaubigt. Literatur, wo sie seiner Meinung nach wirklich eine ist, kommt von den kaputten Ich-Spezialisten und aus dem, was Goetz eine «innere Hysterieenergie» nennt.

Wenn zum 70. Geburtstag am 24. Mai zwei neue Bücher erscheinen, eines mit Theaterstücken, eines mit Tagebuchnotizen, Reden, Interviews und Aufsätzen, dann ist das nicht, wie letzterer heisst: «wrong», sondern richtig. Man hat das Gefühl, man habe Goetz ganz, und am Ende nervt er auch ganz ausserordentlich. Fiebrig irrlichterndes Ich.

Wörter und Begriffe wie «assoziative Speedweise», «theoretizistische Idiosynkrasie», «Figurizitätsproblematik» und «Menschenbegegnungserfahrungen». Sätze wie: «Ohne Riskanz entsteht kein schönes Werk der Nichtanfänglichkeit.» Aber auch: «Liegerad: Inbegriff der Verpeiltheit des Individualismus.» Seinem Publikum gegenüber war die Riskanz der Goetzschen Sätze immer einigermassen kalkuliert.

Randbeteiligung am Krieg

Nach einer Phase langen Schweigens, das auf die eher unfreundlichen Kritiken zu seinem letzten Roman, «Johann Holtrop» (2012), folgte, dann der plötzliche Auftritt am Berliner Wissenschaftskolleg. Der Anlass zu einer neuen Nummer der «Zeitschrift für Ideengeschichte» wurde zur Feier dieses einen Autors. Er sprach im Februar 2023 über die Feuilletons und die Wirkmacht des gedruckten Wortes, aber auch vom Krieg in der Ukraine. Die Rede kann man im Buch «wrong» nachlesen. Es ist eine irritierende Rede. Die Realität des Krieges hat sich vor die realistische Ästhetik geschoben, für die Goetz steht. Vor einen heute feuilletonistisch wirkenden Realismus, den der Autor einmal so beschrieben hat: als «Faszinationskonzept, das sich von der Wirrheits- und Maximalitätsseite der Welt angezogen fühlt».

Den Zuhörern am Berliner Wissenschaftskolleg hat Goetz geschildert, wie ihm bei der Lektüre der deutschen Feuilletons im Frühjahr 2022 der Weltzustand klar wurde: «Endlich konnte ich den historischen Moment vom August 1914 wirklich nachempfinden, die kollektive Bereitschaft zum Krieg, so hatten die Leute das damals also erlebt, so sind sie hineingerannt in ganz Europa in diesen Grossen Krieg, aus einer solchen Stimmung heraus, wie sie jetzt andeutungsweise wieder herrschte.»

Wirklich? 2022 hat eine kollektive Bereitschaft zum Krieg geherrscht? Im Arbeitsjournal des Jahres 2019, das im Mai-Heft 2024 der Zeitschrift «Merkur» veröffentlicht wurde, schreibt Rainald Goetz: «Das ist so schwer auszuhalten am Krieg: dass er für die, die ihn überleben, vielleicht sogar in ihm triumphieren, eine herrliche, grossartige Sache ist, inhärent jugendlich; von denen aber, die in ihm umkommen, an ihm leiden, als Ältere, Angehörige, Randbeteiligte ihm ausgesetzt und unterworfen sind, als etwas absolut Furchtbares erfahren wird, elend und verbrecherisch.»

Was will der Autor, der diesen feuilletonistischen Absatz mit einem Blick auf ein Foto des deutschen Schriftstellers Ernst Jünger in seinem Bücherregal ausklingen lässt, sagen? Dass der Krieg einen besseren Ruf hätte, wenn selbst die, «die in ihm umkommen», mit einem Gefühl «inhärenter Jugendlichkeit» belohnt würden? Ein kollaterales Elend des Krieges ist die romantische Randbeteiligung von Schriftstellern. Da hat sich seit Ernst Jünger offensichtlich nicht viel geändert.

Brüten über neuen Weltzugriffen

Die Literatur von Rainald Goetz ist ein Projekt: Selbsterziehung zu heisser Anteilnahme bei gleichzeitig kaltem Blick. Mit der scharfen Beobachtung von Milieus als einem Ganzen hat diese Literatur blendend funktioniert. Je nach gesellschaftlichen Virulenzen unternahm Goetz Versuche, sich als Autor immer wieder neu zu erfinden. Selbst das Zögern und die Pausen vor dem jeweils nächsten Buch galten seinen Fans als Bebrütungsphasen für neue Weltzugriffe.

Aus der psychiatrischen Wirklichkeit des wirklichen Psychiaters Goetz wurde der Roman «Irre». Gleichzeitig mit diesem wurde Goetz zum Schriftsteller. Ab da war er mit dabei. Mit «Rave», «Abfall für alle», «Loslabern» und «Johann Holtrop». Bei den Techno-Jahren und den frühen Schreibenthemmungen der Internet-Blogs. Beim Bedeutsamkeitsgemurmel heimlicher und unheimlicher Berliner Macht. Beim formelhaften und distinktionsbewussten Smalltalk deutscher Journalisten und Medienunternehmer.

Liest man «wrong» oder auch das suadahafte Stück «Lapidarium», dann sieht man die selbstgesetzten und vielleicht auch nicht wirklich überwindbaren Grenzen der Anthropologie des Rainald Goetz. Seine soziologische Sensibilität kommt auch aus einer privaten Dünnhäutigkeit. Den Hass nennt Goetz selbst als Treibmittel seines Schreibens. Er kultiviert ihn dort, wo er ihn gerade brauchen kann.

2006 schreibt der Autor einen Rant in der Zeitschrift «Tempo»: «Nicht unendlich angewidert, nicht abgestossen sein, endlich nur noch ewig angekotzt von allem, wie es nie war und nicht mehr ist, der ganze Dreck, die nirgends unversammelten Idioten, die das alles betreiben: Aussageflucht, Narrationsmüll, Nichtideen, das All und das Nichts der Dinge und des Todes: ah, aua, ach.» Die Wirklichkeit anderer Ichs nicht nur aus dem Literaturbetrieb ist für Rainald Goetz eine paradoxe Zumutung: anziehend und abstossend zugleich. An ihnen schärft er seine Messer, ist Arzt und Täter und natürlich Autor.

Maxim Biller, Wolfgang Herrndorf, der frühere «Merkur»-Redaktor Michael Rutschky, da und dort auch Handke oder Stuckrad-Barre werden im Textgebirge von «wrong» zu Opfern. Ein «huschendes Schreiben» und «flatterndes Denken» attestiert sich Rainald Goetz gleich zu Beginn des Buches. Auch wenn er trotz siebzig Jahren noch sehr jung wirkt, zur harmlosen Waldfee der deutschen Literatur wird er nicht mehr werden.

Rainald Goetz: Wrong. Textaktionen. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024. 368 S., Fr. 34.90.

Rainald Goetz: Lapidarium. Stücke. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024. 368 S., Fr. 44.90.

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