Freitag, Oktober 4

Dinuka Liyanawatte / Reuters

Sri Lankas Wirtschaft hat sich nach der tiefen Krise vor zwei Jahren gefangen. Aber Korruption, Rechtsunsicherheit und fehlende Investitionen aus dem Ausland stellen den Aufschwung infrage. Die Zahl der Armen hat sich mehr als verdoppelt.

Sri Lankas Wirtschaft hat das Schlimmste hinter sich. Nach der dramatischen Krise vor zwei Jahren, die fast zum Zusammenbruch der Wirtschaft führte, hat sich die Lage wieder stabilisiert. Benzin ist wieder erhältlich, die Supermärkte sind gefüllt, und die Inflation betrug im Juni nur noch 2,4 Prozent. Dank dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der im März 2023 einen Kredit über drei Milliarden Dollar bewilligt hat, haben sich die staatlichen Finanzen verbessert. Präsident Ranil Wickremesinghe, der im September wiedergewählt werden will, verkauft die Erholung als grossen Erfolg seiner Regierung.

Doch der Einbruch hat tiefe Spuren hinterlassen. «Die Wirtschaftskrise ist verheerend, auch wenn sie auf den Strassen Colombos wenig sichtbar ist», sagt Iromi Perera, die in Sri Lankas Hauptstadt die Denkfabrik Colombo Urban Lab leitet, die sich mit der Stadtentwicklung und sozialer Sicherheit befasst. «Seit August 2022 sind Nahrungsmittel um 90 Prozent teurer geworden. Strom kostet heute dreimal so viel, die Strompreise sind die höchsten in Südasien. Darunter leiden vor allem diejenigen, die selbständig oder im Tagelohn arbeiten.»

Während sich Tagelöhner früher Geld geliehen hätten, um ein höheres Einkommen zu erzielen, hätten sie wegen der Krise Tuktuks oder Motorräder verkaufen müssen, sagt Perera. Heute liehen sie sich Geld, um die Miete oder Nahrungsmittel bezahlen zu können. Die Hauptlast der Schuldenkrise tragen die Unter- und die Mittelschicht. In der Folge hat sich die Zahl der Personen unterhalb der Armutsgrenze zwischen 2019 und 2023 von drei auf sieben Millionen mehr als verdoppelt.

Im Januar 2024 lag die offizielle Armutsgrenze in Sri Lanka bei 17 014 Rupien, umgerechnet etwa 50 Franken im Monat. Heute lebt etwa jeder dritte Einwohner Sri Lankas von weniger als 50 Franken im Monat. So verdienen zum Beispiel Plantagenarbeiter weniger als drei Franken pro Arbeitstag. Als die Regierung den Taglohn im Mai auf knapp fünf Franken erhöhen wollte, behaupteten die Teeproduzenten, ein derart hoher Lohn würde sie in den Ruin treiben.

Präsident Rajapaksa hat das Land in die Krise gestürzt

Die Erholung der Wirtschaft bleibt gefährdet, und die Erinnerung an die Krise ist noch frisch. Begonnen hatte sie mit den blutigen Anschlägen muslimischer Extremisten am Ostersonntag 2019, die über 250 Menschen das Leben kosteten und den wichtigen Tourismus auf der Insel zum Erliegen brachten. Die Präsidentschaftswahlen im November desselben Jahren brachten Gotabaya Rajapaksa an die Macht, den jüngeren Bruder des ehemaligen Präsidenten Mahinda Rajapaksa, der das Land von 2005 bis 2015 regiert hatte.

Die singhalesischen Wähler verlangten nach den Anschlägen der Islamisten nach einem starken Präsidenten, und der Hardliner Gotabaya versprach Sicherheit. Als Sekretär des Verteidigungsministeriums hatte er den Krieg gegen die tamilischen Separatisten mit unerbittlicher Härte geführt. Zehntausende tamilische Zivilisten wurden in der Endphase des Bürgerkriegs 2009 getötet. Gotabaya hatte aber kaum politische Erfahrung und umgab sich mit zweifelhaften Beratern.

Nach der Wahl kündigte der Präsident weitreichende Steuersenkungen an. Die Mehrwertsteuer senkte er von 15 Prozent auf 8 Prozent, andere Steuern wurden ganz aufgehoben. Das Budgetdefizit stieg von 9,6 Prozent des Bruttosozialprodukts 2019 auf 12,2 Prozent im Jahr 2021. Die Staatsschulden wuchsen im selben Zeitraum von 87 auf 106 Prozent des Bruttosozialprodukts an. Weil in der Folge die Notenpresse angeworfen wurde, erreichte die Inflation 2022 bis zu 70 Prozent.

Es kam zu einem Volksaufstand, Gotabaya Rajapaksa musste im Juli 2022 aus dem Land fliehen und seinen Rücktritt einreichen. Zum neuen Präsidenten wählte das Parlament Ranil Wickremesinghe, einen ehemaligen Premierminister und langjährigen Politiker. Gemäss der Verfassung kann er bis zum Ende des fünfjährigen Mandats im Amt bleiben. Am 21. September wird er sich nun den Wählern stellen müssen. Seine Chancen auf eine Wiederwahl sind gering.

Die Bevölkerung hat einen hohen Preis gezahlt

Dies liegt auch daran, dass der Grossteil der Bevölkerung einen hohen Preis in der Krise gezahlt hat. Auch die Mittelschicht hat Wickremesinghe zur Kasse gebeten. So setzte er die Mehrwertsteuer von 8 auf 18 Prozent herauf. Die Einkommenssteuer hat er erhöht und die Zahl der Steuerpflichtigen stark ausgeweitet. Als Folge rutschten auch Angehörige der Mittelschicht unter die Armutsgrenze. Nicht zuletzt wurde die Staatskasse auf Kosten der Altersvorsorge saniert. Die Folge sind wesentlich tiefere Renten für Staatsangestellte.

Die Wirtschaft des südasiatischen Inselstaats ist gemäss der Asian Development Bank im Krisenjahr 2022 um 7,8 Prozent und 2023 um weitere 3 Prozent geschrumpft. Für 2024 rechnet die Bank nun mit einem moderaten Wachstum von 1,3 Prozent. Gleichzeitig bleiben die Schulden hoch. Betrugen die kumulierten Schulden im Inland und im Ausland Ende September 2022 rund 81 Milliarden Dollar, lagen sie Ende März 2024 bei über 100 Milliarden.

Der Internationale Währungsfonds, der im Juni die dritte Tranche des Hilfskredits an Sri Lanka überwiesen hat, hielt zu diesem Anlass fest, der Weg zurück zu einer tragfähigen Verschuldung sei auf Messers Schneide: «Die Aufrechterhaltung der Reformdynamik und die Bemühungen um eine Umschuldung sind von entscheidender Bedeutung, um die Wirtschaft auf den Weg einer dauerhaften Erholung und der Schuldentragfähigkeit zu bringen.»

Viele Probleme Sri Lankas sind hausgemacht

Aus Sicht des in Sri Lanka geborenen Ökonomen Shanta Devarajan sind viele der Probleme hausgemacht. So hätten 1978 alle Schichten von der Liberalisierung der Wirtschaft profitiert, seit 2000 nehme die Handelsoffenheit jedoch wieder ab, sagt der Professor für internationale Entwicklung an der Georgetown Universität an einer Präsentation in Colombo. Ein Gesetz von 1958 verlange, dass auf grossen Flächen Reis angebaut werde, obschon der finanzielle Ertrag wesentlich tiefer ist als bei anderen landwirtschaftlichen Produkten.

Die Schulen in Sri Lanka seien so schlecht, dass selbst 60 Prozent des einkommensschwächsten Viertels ihren Kindern zusätzlichen Privatunterricht bezahlten, sagt der frühere Chefökonom der Weltbank für die Regionen Naher Osten und Nordafrika, Afrika und Südasien. Und von der Armutsbekämpfung profitierten vor allem Stammwähler der Regierungspartei, aber weniger als die Hälfte der Familien unter der Armutsgrenze.

Wegen der Krise haben sich zusätzliche 22 Prozent der Haushalte verschuldet, insgesamt sind es heute 55 Prozent. Der Ökonom Nishan de Mel, Direktor des Think-Tanks Verite Research, sagt: «Unser Problem ist, dass nicht die richtigen Leute besteuert werden. Es gibt enorme Ungerechtigkeiten. So gab es allein im Finanzjahr 2022/2023 Steuererleichterungen in Höhe von 3,2 Milliarden Dollar. Diese Steuergeschenke werden oft aus Eigeninteresse gemacht und sind entsprechend verbunden mit Korruption.»

Die Umstellung der Visavergabe ist ein Debakel

Die Korruption ist allgegenwärtig. Wer in jüngerer Zeit ein Visum für Sri Lanka beantragen wollte, wurde auf der zuständigen Website darüber informiert, dass seit dem 2. August keine Visa mehr erteilt würden. Tatsächlich wurden in den Sommermonaten Visa nur am Flughafen in Colombo ausgestellt. Bis im April war die staatliche Mobitel für die Erteilung von elektronischen Visa zuständig gewesen. Das System war einfach zu bedienen und funktionierte einwandfrei. Mobitel verlangte dafür eine Gebühr von umgerechnet einem Dollar pro Visum.

Am 17. April übernahm dann aber plötzlich ein dubioses Konsortium die Aufgabe. Die Gebühr betrug nun 25 Dollar statt wie bis anhin einen. Der Tourismusminister sagte, er sei weder informiert noch konsultiert worden, der zuständige Minister für öffentliche Sicherheit hingegen behauptete, das Kabinett habe dem Vorschlag zugestimmt. Offenbar hatte das Konsortium ursprünglich zugesagt, 200 Millionen Dollar zu investieren, um das Migrationsamt mit technischer Ausrüstung und Software zu unterstützen. Im Vertrag war davon aber keine Rede mehr.

Nach Klagen von mehreren Anwälten setzte das Oberste Gericht den Vertrag aus. Da nun aber ausser am Flughafen in Colombo gar keine Visa mehr erteilt wurden, schlug der Verband der Reiseveranstalter Alarm: Die Ankünfte gingen massiv zurück, und die Buchungen liefen schlecht. Daraufhin entschied sich die Regierung für einen Befreiungsschlag und verkündete, ab dem 1. Oktober könnten die Bürger von 35 Ländern ohne Visum einreisen, darunter auch Schweizer und Deutsche. Da die Touristen am Flughafen über lange Wartezeiten klagten, wurde die Visafreiheit am 2. September per sofort in Kraft gesetzt.

Korruption ist das Schmiermittel der Politik

«In Sri Lanka ist die Korruption zum Schmiermittel der Politik geworden», sagt Nishan de Mel. «Es würde aussergewöhnliche Kreativität und Fähigkeiten erfordern, um politisch ohne Korruption zu überleben. Im Moment gibt es keine Ambitionen, dies zu tun.» Besonders die Staatsunternehmen wie die Elektrizitätswerke, die Wasserversorgung, die Eisenbahn, die Sri Lankan Airlines leiden unter der Korruption. In der Folge haben sie Milliardenschulden angehäuft.

Korruption und Rechtsunsicherheit führen auch dazu, dass kaum ausländische Gelder nach Sri Lanka fliessen. «Bis 2009 hiess es, der Krieg sei das Problem, aber noch immer haben die Investoren kein Vertrauen in die Regierung», sagt Nishan de Mel. Dabei würden ausländische Direktinvestitionen nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch einen Zuwachs an Wissen und Know-how schaffen.

Nach Ansicht von Iromi Perera ist der IWF ebenso Teil der Lösung wie Teil des Problems. Denn er setze keine Priorität auf die Förderung von Gesundheit und Bildung, die für die langfristige Entwicklung wichtig seien. Diese Meinung setzt sich in Sri Lanka zunehmend durch. Nishan de Mel findet, der IWF sollte seine Analysen transparenter gestalten. Man könnte zur Ankurbelung der Wirtschaft bestimmt Wege finden, die auch das allgemeine soziale Wohlergehen verbessern.

Der Unmut über den IWF wird auch den Westen treffen

Der Soziologe und Ökonom Ahilan Kadirgamar ist noch kritischer: «Die Leute warten jetzt auf die Wahlen. Sie glauben, dass diese die Dinge auf magische Weise verändern werden. Doch 2025 oder 2026 werden sie feststellen, dass sich die Dinge nicht geändert haben.» Die Leute hätten den Eindruck, dass der Westen den IWF voll unterstütze. Es werde zwangsläufig eine Gegenreaktion gegen den IWF wegen seiner Sparmassnahmen geben, die sich auch gegen den Westen richte.

Der Dozent an der Universität Jaffna blickt pessimistisch in die Zukunft. Der Unmut über die wirtschaftliche Entwicklung könne leicht zu Spannungen in der Politik führen und sich gegen die Minderheiten richten, sagt er warnend. «Zuerst werden die singhalesischen Nationalisten dem Westen die Schuld geben, aber schliesslich kann die Polemik das Land polarisieren und sich gegen Tamilen und Muslime wenden.»

Exit mobile version