Mittwoch, Oktober 9

Elsa Morante hat in den siebziger Jahren mit einem Roman das Sittenbild von Mussolinis Italien gezeichnet. Sie zielte mit dem aufsehenerregenden Buch mitten in ihre Gegenwart. Nun erscheint eine Neuübersetzung des Romans.

Kaum ein anderes Werk der italienischen Literatur des 20. Jahrhunderts sorgte gleich bei Erscheinen für einen derartigen Aufruhr wie Elsa Morantes «La Storia» aus dem Jahr 1974. Siebzehn Jahre hatte sich die Römerin nach «Arturos Insel» Zeit gelassen, ehe sie mit Wucht die literarische Bühne wieder betrat.

Auf Morantes Geheiss hin erschien «La Storia» in einer erschwinglichen Taschenbuchausgabe, fand binnen kurzer Zeit reissenden Absatz und eine riesige Resonanz. Sie reichte von Begeisterung bis zu teilweise heftiger Kritik, etwa von Pasolini oder Umberto Eco. Schon zwei Jahre später erschien, bei Piper, die erste deutsche Übersetzung der Schweizerin Hannelise Hinderberger. Nun erscheint das Buch in neuer Übertragung von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski.

«La Storia» taucht in eine der am hitzigsten diskutierten Epochen der italienischen Geschichte ein, in die Jahre 1941 bis 1947. Seit dem «Stahlpakt» von 1939 waren Mussolinis Schwarzhemden mit den deutschen Nationalsozialisten eng verbündet, deren Ideologie sie auch mit ihren «Rassegesetzen» folgten.

Innere Zerrissenheit

Jedem der acht Kapitel stellt Morante eine makrohistorische Übersicht voran. Darin resümiert sie, was die Welt in jener Zeit an Grossereignissen prägte. In diesen Rahmen bettet sie die Geschichte ihrer Hauptfigur ein, der verwitweten Grundschullehrerin Ida Ramundo, die in Roms Stadtteil San Lorenzo mit ihrem 1926 geborenen Sohn Nino lebt.

Elsa Morante führt auf diese Weise vor, wie die Weltpolitik und die ideologischen Auseinandersetzungen um Faschismus, Kommunismus und Anarchismus zurückwirken auf den Einzelnen. Idas lebenshungriger Sohn Nino ist dafür das Musterbeispiel einer inneren Zerrissenheit.

Sympathisiert er anfangs mit Mussolinis Truppen, schliesst er sich bald den Partisanen an und ist nach Kriegsende, zum Unverständnis seiner kommunistischen Freunde, nicht mehr bereit, irgendeine Herrschaft zu akzeptieren. Dem puren Lebensgenuss will er huldigen, nachdem sich eine Ideologie so trügerisch wie die andere erwiesen hat.

Inmitten dieser – im Roman ausgiebig wiedergegebenen – Gefechte steht die schüchterne, in sich gekehrte Lehrerin Ida, die ihren Sohn innig liebt und seine Kapriolen sorgenvoll verfolgt. Zutrauen findet sie zu niemandem, denn tagtäglich ist sie von der Angst geprägt, ihre Stelle zu verlieren und verhaftet zu werden. Keiner, so bang sie, darf erfahren, dass ihre Mutter Jüdin war. Sie ändert deswegen die Schreibweise ihres Nachnamens und möchte unsichtbar bleiben, um dem Zugriff des staatlichen Judenhasses zu entkommen.

Siebenunddreissig ist Ida im Januar 1941, als das Schicksal ihr einen heftigen Schlag versetzt. Ein blutjunger deutscher Soldat aus Dachau – Gunther – zieht durch die Strassen Roms, betrinkt sich und zögert keine Sekunde, die Zufallsbegegnung mit der früh gealterten Ida brutal auszunutzen: Er vergewaltigt sie, lässt die Geschundene zurück und wird kurz darauf selbst im Krieg sterben, ehe sein Leben eigentlich begonnen hat.

Ida trägt das Kind dieser Vergewaltigung aus; im August 1941 bringt sie ihren zweiten Sohn – Useppe genannt – zur Welt. Wer der Vater ist, erzählt sie niemandem. Ihre Angst vor allem und jedem nimmt zu. Ihr Leben kreist nur mehr um ihre innig miteinander verbundenen Söhne: da der umtriebige, in obskuren Kreisen sich bewegende Nino, hier der heitere, von epileptischen Anfällen heimgesuchte Useppe.

Erbarmungslose Autorin

Elsa Morante lässt ihren Roman von einer allwissenden Stimme im Rückblick erzählen, die gelegentlich als «Ich» auftritt, ohne dass sich sagen liesse, welchen Platz sie in der Geschichte der Ramundos genau einnimmt. Mit grosser Eindringlichkeit beschwört sie Idas Überlebenskampf, die Sorge um das tägliche Brot und ein Dach über dem Kopf, nachdem ihr Haus von Bombenangriffen zerstört worden ist. Hinzu kommt, als ihre Kräfte schwinden, die Furcht, ihre Stelle als Lehrerin und vor allem das Liebste ihres Lebens, ihre Kinder, zu verlieren.

So gross die Sympathien für die unglückselige Ida sind, Elsa Morante schenkt ihr kein Erbarmen, kann ihr keines schenken. Ihre Söhne kommen ums Leben, und fortan hat sie keinen Halt mehr. Auch das Kriegsende verströmt wenig Zuversicht. Die Geschichten der Juden, die überlebt haben, will niemand hören, und die Hoffnung auf einen Neuanfang erweist sich als naive Illusion: «Der Duce und seine Clique waren begraben, und die Königsfamilie hatte ihre Koffer gepackt; aber die Drahtzieher hinter der Bühne waren immer noch dieselben, auch wenn die Kulissen wechselten.»

«La Storia» ist ein kühn realistisches Buch, das ohne Nostalgie auf Faschismus und Kriegszeit zurückblickt – aber aus Elsa Morantes Gegenwart und für ihre Zeitgenossen geschrieben war. Die historische Bilanz war so niederschmetternd, wie der Blick in die bleiernen 1970er Jahre Anlass zu Pessimismus gab. Auch darum wurde das Buch von unbeeindruckbaren linken Wortführern so kritisch aufgenommen.

Elsa Morantes «La Storia» ist ein bewegender Roman geblieben, ein couragiertes Unternehmen, in dem das Private mit dem Politischen verbunden wird. Wo politische Theorien in grosser Ausführlichkeit referiert werden, hat das Buch Patina angesetzt. Doch im Gegenzug entfaltet der Roman insbesondere dann seine Qualitäten, wenn er sich auf den nervenaufreibenden Alltag der Ramundos und ihrer Weggefährten einlässt. Dann ahnt man, wie zerrissen das Land einmal war. Und man glaubt zu verstehen, dass diese Zerrissenheit noch heute – oder heute wieder – nachwirkt.

Elsa Morante: La Storia. Roman. Aus dem Italienischen von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski. Wagenbach-Verlag, Berlin 2024. 763 S., Fr. 52.90.

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