Donnerstag, Oktober 10

Judith Butler nennt alle, die am Unterschied zwischen Ei- und Samenzelle festhalten, Faschisten. Die Autorin Sara Rukaj schreibt über einen asexuellen Tunnelblick, der neue Rivalitäten schafft.

In den letzten vier, fünf Jahrzehnten durchlief die allgemeine Wahrnehmung von Geschlechterverhältnis und Sexualität einen epochalen Liberalisierungsschub. Die strafrechtliche Ahndung von Homosexualität und «unsittlichem Verhalten» wurde eingestellt, die «Ehe für alle» in Deutschland und der Schweiz offiziell eingeführt. Auch die Transsexualität wird im populären Diskurs nicht länger als dystopischer «body horror» dargestellt. Stattdessen zieren schillernde Transpersonen wie Caitlyn Jenner oder Elliot Page das Cover von Hochglanzmagazinen.

Auf den ersten Blick spricht alles für die Aufweichung vormals starrer Geschlechtsmerkmale, doch auch unter dem Regenbogen geht es nicht immer emanzipatorisch zu. Das Kürzel LGBTQ ist inzwischen so begehrt, dass neue Gruppen, die unter seinem Dach Schutz suchen, mit einem symbolischen Plus zufrieden sein müssen.

Die Zahl der operativen Geschlechtsangleichungen unter Kindern und Jugendlichen ist sprunghaft gestiegen. Ein Teil davon geht wohl auf äussere, besonders virulente Einflüsse wie Instagram oder Tiktok zurück. Das lässt sich daran erkennen, dass der Wille zur Geschlechtsangleichung nicht mehr auf ein langes Leiden, sondern auf einen Impuls zurückgeht, der kaum mehr begründet wird.

Es entstehen neue Zwänge zu normierter Identität

Der Trend zum «neuen Körper» schafft auch neue Rivalitäten. Trans- und Queeraktivisten werfen Schwulen und Lesben vor, an die Geschlechtergrenzen zu erinnern, die man doch überwinden wolle. Schwule und Lesben fühlen sich gedrängt, ihr gleichgeschlechtliches Begehren aufzugeben und lieber das Geschlecht zu wechseln, um die alte, restaurative Ordnung unter queeren Vorzeichen zu erneuern.

Intersexuelle werden von Transpersonen für eigene politische Anliegen instrumentalisiert. Und auch Transgenderpersonen und Transsexuelle sind einander bisweilen gram. Dann gibt es noch die Nonbinären, die wie kleine Wölkchen über den sozialen Normen schweben und als besonders authentisch gelten, weil niemand so recht weiss, was er sich darunter vorstellen soll.

Geschlecht wird aber gerade dort essenzialisiert, wo man es durch operative Eingriffe, Selbstbezeichnungen oder als reinen Gesinnungsmarker wieder gross machen will. Obwohl die Exponenten der Queer Theory von sich behaupten, Identitätszwänge zu unterwandern, schüren sie selbst eine Fetischisierung partikularer Identitäten, die die Individuen noch rigider als die konservative Geschlechterordnung darauf beschränkt, auch körperlich mit ihrem «gefühlten» Selbstbild identisch zu sein. Dieses Credo zeigt sich beispielhaft an der Transidentität, die, statt die geschlechterbinäre Ordnung zu unterlaufen, geschlechtliche Eindeutigkeit unter nunmehr umgekehrten Vorzeichen reproduziert.

Suggeriert wird die Existenz eines eindeutigen, nicht zwangsläufig mit dem Körper übereinstimmenden «wahren Geschlechtes». Selbst der Begriff Transsexualität gilt dem neuen Geschlechtsidentitarismus inzwischen als Relikt, das an die überwunden geglaubten Naturgrenzen und die Widersprüchlichkeit des Sexus erinnert. Die postulierte Transidentität kaschiert dagegen, dass der Weg zum ersehnten Geschlecht mit tiefen medizinischen Eingriffen in den Körper verbunden ist.

Ist Biologie faschistisch?

Anders als die sozialgeschichtliche Geschlechterforschung geht die Begründerin der Queer Theory, Judith Butler, nicht mehr im Anschluss an Freud von einem allen Menschen gemeinsamen, sich geschlechterspezifisch und individuell ausdifferenzierenden Triebschicksal aus. All das ist bekannt, seit Butler den Veranstaltern des Christopher Street Day «transfeindlichen Homonationalismus» vorwarf und einen ihr zuerkannten Preis ablehnte. Das war im Jahr 2010. Heute nennt Butler alle, die am Unterschied zwischen Ei- und Samenzelle festhalten, also im Biologieunterricht nicht geschlafen haben, Faschisten.

Wohin der asexuelle Tunnelblick auf den eigenen Körper seither geführt hat, lässt sich eindrucksvoll an den Äusserungen des vielfach prämierten Autors Kim de l’Horizon studieren, der seinen nonbinären Protagonisten unter dem Romantitel «Blutbuch» (2023) gegen den «Faschismus des Binären und protofaschistische schwule Männlichkeit» wettern lässt: «Und ich war ja auch tatsächlich nie schwul, weil Schwulsein geht ja nur, wenn mensch daran glaubt . . . und dieses Schauermärchen von bloss zwei Geschlechtern, von zwei un­schmelzbaren Gletschern, die genau das Gegenteil voneinander seien, das erzähle ich nicht weiter. Ohne mich, ihr Bäcker des Bestehenden.»

Doch welcher Konditor des Kommenden hat eigentlich behauptet, dass Männer und Frauen in allem genau das Gegenteil voneinander sind, ausser einem Autor, der diesen Mythos braucht, um ihn durch einen neuen, moderneren abzulösen und aus dem Ikonoklasmus kulturelles Kapital zu schlagen? Wirklich emanzipatorisch wäre dagegen die Fähigkeit, den Blick vom Spiegelbild ab- und den äusseren Objekten des Begehrens zuzuwenden, weshalb die Schwulenbewegung auch deutlich subversiver war, als es Teile der Queer Community heute sind.

Plastische Chirurgie statt Phantasie

Die reine Selbstsetzung des Ich, also die auf dem subjektiven Gefühl beruhende Identität, richtet sich nicht gegen die spätkapitalistische Gesellschaft, sondern ist, wie die Philosophin Isolde Charim in ihrem Buch «Die Qualen des Narzissmus» (2022) schreibt, vielmehr der radikalisierte Ausdruck neoliberaler Selbstoptimierung. Die Sexualität hat sich insofern nicht emanzipiert, sondern vielmehr diversifiziert und entsinnlicht, ja bürokratisiert.

Waren es früher Transvestitismus, Schein und Schauspiel, die die Rollen veralberten, statt sie in einem geschlechterpolitischen Identitätenbaukasten als angeblich naturwüchsig zu verfestigen, huldigen Transidentitäre dem anatomischen Realismus und der plastischen Chirurgie. Bis zum 20. Jahrhundert war der Gedanke der Geschlechtsumwandlung kaum mehr als eine Phantasie, die sich mit spielerischer Inszenierung begnügen musste.

Erst mit dem Aufkommen der Möglichkeit zur hormonellen und operativen Geschlechtsangleichung setzte sich ab den 1960er Jahren die medizinische Diagnose Transsexualität oder Transsexualismus durch, die das spezifische Leiden der Betroffenen als Leiden an ihrem Körper festmachte. Es begann die historische Entwicklung des «medizinischen Projekts Transsexualität», wie es Stefan Hirschauer 1993 nannte. Sowohl die Medizin als auch nachfolgend die Gesetzgebung haben den transsexuellen Wunsch sukzessive unter ihre Kontrolle gebracht, nicht zuletzt im Interesse der Aufrechterhaltung traditioneller Geschlechternormen.

Es ergab sich daraus eine Verschiebung mit weitreichenden Folgen für die sexuelle Liberalisierung. In den westlichen Industrienationen ist die Anzahl der Jugendlichen mit einer diagnostizierten Geschlechtsdysphorie um das Zwanzigfache gestiegen. Eine Entwicklung, die sich nicht allein medizinisch erklären lässt und seit etwa fünfzehn Jahren zu achtzig Prozent junge Frauen betrifft.

Waren es in den 1980er und 1990er Jahren überwiegend homosexuelle Männer, die aufgrund des stärkeren gesellschaftlichen Stigmas ihr Begehren nicht anerkennen konnten und zur Frau werden wollten, sind es heute junge Mädchen in den Wirren ihrer Pubertät, die das Geschlecht wechseln. Bestätigt werden sie in ihrem Tun von zukunftstüchtigen Medien, Medizinern und Eltern, die bei den kleinsten Abweichungen von stereotyp weiblichen Verhaltensweisen wittern, dass es sich bei diesem etwas zu burschikos geratenen Geschöpf eigentlich um einen Jungen handeln müsste.

Gefahr von irreversiblen Folgen

Synchron zur sprunghaft wachsenden Zahl geschlechtstransitionierter Jugendlicher wächst auch die von Menschen, die ihre frühzeitige Geschlechtsangleichung bereuen. Oftmals benennen sie ihr verdrängtes homosexuelles Begehren als Ursache für die zuvor empfundene Geschlechtsdysphorie und den Wunsch zum Geschlechtswechsel, der sich teilweise nicht mehr rückgängig machen lässt.

Auf diese Einsicht müsste das Eingeständnis folgen, dass sexuelle Widersprüche sich auch mit einem operativen Wechsel des anatomischen Geschlechts nicht auflösen. Daher ist es von eminenter Wichtigkeit, eine solch folgenreiche Entscheidung darauf zu prüfen, ob ein operativer Eingriff der Stärkung des Ich zugutekommt oder nicht.

Kaum zufällig forciert der 1997 von der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung herausgegebene «Leitfaden zur Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen» die Wichtigkeit objektivierbarer Diagnosekriterien und schützt vor irreversiblen Fehlentscheidungen. Im Falle einer operativen Geschlechtsangleichung können sie mit dem Verlust der Libido, Amputationen, lebenslanger Hormoneinnahme, Nachfolgeoperationen sowie für Frauen mit dem Verlust der Gebärfähigkeit einhergehen.

In den Leitlinien des in diesem Jahr vom Bundestag verabschiedeten Selbstbestimmungsgesetzes wird dagegen «ein selbstbestimmter, informierter und freier Zugang zu trans-spezifischen Gesundheitsdienstleistungen ohne Indikationsstellung aus dem psychiatrisch-psychotherapeutischen Fachgebiet» propagiert, der die Möglichkeit einer therapeutischen Behandlung nicht nur infrage stellt, sondern gleichsam verwirft.

Die diagnostische Feststellung einer innerpsychischen Krankheit gehe mit der Abwertung und Diskriminierung der Betroffenen einher, so die einzige Begründung. Wo aber keine Krankheit aktenkundig wird, zahlen Krankenkassen auch keine Therapien und Operationen. Und wer Krankheit nicht beim Namen nennen will, um keine Kranken zu stigmatisieren, hat sich der Illusion ergeben, dass bereits der Gebrauch des Wortes stigmatisierend wirkt, nicht erst sein ideologischer Missbrauch.

Vermeintlicher Fortschritt

Psychotherapie ermöglicht den Betroffenen im besten Fall eine erste Konfrontation mit ihren mitunter auch albtraumhaften Phantasien, bei einer diagnostizierten Geschlechtsdysphorie in den meisten Fällen auch eine Versöhnung mit der eigenen Geschlechtlichkeit. Denn vermutlich hat sich jedes pubertierende Mädchen einmal gewünscht, aus seinem Körper auszubrechen. Und die technisch-medizinische Machbarkeit beflügelt vermutlich auch den Wunsch nach immer radikaleren Versuchen, der eigenen Scham zu trotzen.

Geschlecht ist etwas Vor-Individuelles, etwas Vor-Gegebenes, das im hyperindividualisierten Zeitalter wie ein ständiger Affront wirken muss. Schon vor der Annahme der Transidentität gab es Probleme mit der Anpassung an stereotype Geschlechtererwartungen. Für viele ist die Transidentität auch ein Versuch, diesem Anpassungsdruck zu entkommen, eine Art magische Lösungsschablone für all ihr Probleme.

Mädchen entwickeln häufig Essstörungen, weil sie damit die Pubertät, das Wachstum der Brüste und die Menstruation bremsen können. Auch hier liegen fast immer ein sexueller Konflikt und ein gestörtes Körperbild zugrunde. Aber statt junge Frauen in ihrer Sexualität und ihrem weiblichen Selbstbewusstsein zu stärken, wird ihnen immer häufiger suggeriert, das Geschlecht zu wechseln. Aus so viel Unvermögen, einander ohne identitäre Schablonen zu begegnen, wird noch kein Schritt in eine bessere Gesellschaft, wenn man ihm ein vermeintlich fortschrittliches Etikett umhängt.

Sara Rukaj ist 1992 in Wien geboren, lebt in Frankfurt und beschäftigt sich als Publizistin mit Antisemitismus, Feminismus und Ideologiekritik.

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