Donnerstag, November 28

Obwohl das Fed die Geldpolitik in den USA lockert, will der Bondmarkt nicht mitspielen. Jim Grant, Herausgeber des «Grant’s Interest Rate Observer», sagt, warum der erneute Anstieg der Renditen besorgniserregend ist, was dahinterstecken könnte und weshalb er zuversichtlich für Edelmetalle und Value-Anlagen ist.

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Die Finanzmärkte atmen etwas auf. Nachdem die Renditen auf langfristige Staatsanleihen seit Mitte September einen kräftigen Schub verspürt haben, stabilisiert sich die Situation etwas. Die Frage ist für wie lange, denn die Inflation zieht wieder leicht an und könnte durch die Wirtschaftspolitik der neuen Regierung in Washington weiter angeheizt werden.

Jim Grant, Herausgeber des Investmentbulletins «Grant’s Interest Rate Observer», macht sich Sorgen. «Ich befürchte, dass es 2025 an den Kreditmärkten zu einer Art Drama kommen könnte; möglicherweise sogar zu einer Krise, bei der jemand seine Zahlungspflicht nicht erfüllen kann, worauf eine Kettenreaktion eine Reihe weiterer schwacher Schuldner zum Kollaps bringt», warnt er. «Noch bevor man sich versieht, muss das Fed dann einmal mehr intervenieren und die Zinsen deutlich senken.»

Im Interview, das am Rand der kürzlich in Zürich veranstalteten Value Intelligence Conference geführt wurde, erklärt der Wallstreet-Augur und ausgewiesene Kenner der Finanzgeschichte, was hinter den jüngsten Entwicklungen am Bondmarkt stecken könnte. Zudem sagt er, weshalb er skeptisch für den Dollar ist, mit weiteren Avancen von Gold rechnet und weiterhin an ein Comeback von Value-Strategien glaubt.

Herr Grant, es macht den Eindruck, dass die Finanzmärkte an einem entscheidenden Punkt angelangt sind. Was beschäftigt Sie im Moment am meisten?

Die Zinsen benehmen sich nicht, wie sie sollten. Sie folgen nicht dem Skript, das Wallstreet und die US-Notenbank ihnen vorgeben. Als das Fed Mitte September damit begann, den Leitzins zu senken, sollte das eigentlich das Startsignal für steigende Anleihenkurse und somit sinkende Renditen sein. Doch der Markt ist ungehorsam und weigert sich, mitzuspielen. Die langfristigen Renditen haben nach einem anfänglichen Rückgang recht aggressiv angezogen, was ziemlich interessant ist.

Was bedeutet dies für die Aussichten auf das nächste Jahr?

Bemerkenswert ist vor allem, wie niedrig die Risikoprämien für Unternehmensanleihen sind. Sie bewegen sich auf dem tiefsten Stand seit zwanzig Jahren, was von viel Optimismus oder Selbstzufriedenheit zeugt. Dies, obwohl der Wettbewerb im Kreditgeschäft immer härter wird und sich die Kreditqualität verschlechtert. Ich befürchte daher, dass es 2025 an den Kreditmärkten zu einer Art Drama kommen könnte; möglicherweise sogar zu einer Krise, bei der jemand seine Zahlungspflicht nicht erfüllen kann, worauf eine Kettenreaktion eine Reihe weiterer schwacher Schuldner zum Kollaps bringt. Noch bevor man sich versieht, muss das Fed dann einmal mehr intervenieren und die Zinsen deutlich senken. Die Nachrichtenlage könnte sich nächstes Jahr also spannend gestalten. Das sind gute Voraussetzungen für Finanzjournalisten, aber weniger für Leute, die ihr Geld in riskante Anlagen investiert haben.

Welches Signal geht Ihrer Meinung nach von den steigenden Zinssätzen aus?

In solchen Zeiten ist man versucht, das Marktverhalten so zu interpretieren, dass es möglichst gut zum eigenen Narrativ passt. Nach meinen jahrzehntelangen Warnungen vor dem desaströsen Umgang mit den US-Staatsfinanzen neige ich daher zur Ansicht, dass sich meine Befürchtungen nun bestätigen: Der Markt begreift endlich, dass das Angebot an US-Staatsanleihen zu den heutigen Renditen grösser ist als die Nachfrage. Die Aussicht, dass die Schulden weiter steigen werden, ist besorgniserregend, zumal in Washington parteiübergreifende Zusammenarbeit und Kompromissbereitschaft inexistent sind. Einigkeit besteht nur in einer Sache: Beide Parteien sind entschlossen, die Kreditwürdigkeit Amerikas zu ruinieren – und das ist ein Grund, warum der Anstieg der Renditen nicht unbedingt überrascht.

Könnte es auch andere Erklärungen geben?

Ein Grund könnte auch sein, dass ein Umdenken hinsichtlich der Geldpolitik stattfindet: Der Markt kommt zum Schluss, dass die Lockerung der Zinsen verfrüht und nicht hilfreich ist, weil immer noch ein erhebliches Risiko von Inflation besteht. Wenn das Fed also die Zinsen in einem Umfeld senkt, in dem es zu einem erneuten Teuerungsschubs kommt, wäre das für die Kreditmärkte generell problematisch, sehr schlecht für den Dollar und ausgesprochen schädigend für die Reputation der US-Notenbank. Obwohl ich denke, dass ihr Ruf ohnehin längst ruiniert ist.

Der Bondmarkt signalisiert demnach das Risiko eines neuerlichen Anstiegs der Inflation?

Ja, das könnte der Fall sein. Inflation ist wie ein unterirdisches Kohlefeuer. In Gegenden wie West Virginia beispielsweise schwelen solche Brände oft tief in aktiven oder stillgelegten Kohleminen und breiten sich leise unter der Erde aus, wobei gelegentliche Rauchschwaden aus dem Boden ihre verborgene Präsenz verraten. Es können viele Jahre vergehen, bis sie sporadisch und ohne Vorwarnung ausbrechen. Ungefähr so verhält es sich mit Inflation: Das Feuer ist nicht erloschen, man spürt die Hitze an den Schuhsohlen, man sieht den Rauch, und hin und wieder flammt es auf. Die Inflation flammte 2021 auf, sie flammte in drei Schüben in den Siebzigerjahren auf, und möglicherweise – denn in der Welt des Investierens ist alles eine Wahrscheinlichkeit – wird sie bald erneut aufflammen.

Was könnte der Auslöser dafür sein?

Inflation, so jedenfalls die ökonomische Analyse, hängt «immer und überall» mit der Geldmenge, mit der Fiskalpolitik oder mit den Erwartungen der Leute zusammen. In der Realität verlaufen Ursache und Wirkung aber selten so geradlinig. Doch wenn es eine sichere, historisch belegte Ursache für Inflation gibt, dann ist es Krieg. Krieg – wenn er in bedeutendem Umfang geführt wird – ist eine Garantie dafür, dass die Gelddruckmaschinen in Gang gesetzt, die Staatsausgaben in die Höhe getrieben und die Inflationserwartungen der Leute erschüttert werden. Dies alles mit dem Ergebnis, dass Leben, Eigentum und nicht selten auch Währungen zerstört werden. Derzeit besteht die reale Gefahr, dass einer der Konflikte, die rund um den Globus schwelen, zu einem grossen Krieg ausbricht und sich Amerika dazu veranlasst sieht, das Arsenal massiv aufzurüsten. Das wäre ein gewaltiger Inflationsimpuls. Vielleicht erwägt der Markt auch ein solches Szenario.

Wo bestehen die grössten Risiken, wenn die Zinsen weiter steigen?

Wie gesagt, mich beunruhigt die Last der Schulden, die sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten angehäuft haben; begünstigt und sogar gefördert durch aussergewöhnlich niedrige Zinsen. Die ultralockere Geldpolitik hat zum Beispiel der Intelligenz und dem Urteilsvermögen von Private-Equity-Investoren geschmeichelt. Die Branche konnte sich praktisch unbegrenzt Geld leihen, um Transaktionen mit hohem Fremdkapitalanteil zu finanzieren. Dies, mit der vermeintlichen Sicherheit, dass solche Kredite stets zu denselben vorteilhaften Konditionen refinanziert werden können. Auch konnten Private-Equity-Fonds dank der niedrigen Zinsen Kredite aufnehmen, um damit Dividendenausschüttungen ihrer Portfoliounternehmen zu finanzieren und sich selbst phänomenale fabelhafte Renditen zu zahlen – und natürlich hielten Pensionsfonds, Stiftungen und andere Institutionen das für eine wunderbare Idee.

Und jetzt?

Die Musik ist verstummt. Zahlungsausfälle nehmen zu, und in den Portfolios der Private-Equity-Firmen befinden sich Unternehmen im Wert von rund 4 Bio. $, die nicht an den Publikumsmärkten verkauft werden können, weil die Leute kein Interesse daran haben. Während Private-Equity-Firmen deshalb nach anderen Ausstiegsmöglichkeiten suchen müssen, nehmen sie zusätzliche Schulden auf, um ihre Kunden und sich selbst mit Dividenden zu vertrösten. Derweil geraten ihre Portfoliounternehmen in immer grössere Schwierigkeiten. Sie haben zusätzliche Zinskosten und müssen noch mehr Kredite aufnehmen, um diese Zahlungen zu decken.

Anders gesagt: Der Entscheid von Fed-Chef Jerome Powell, die Zinsen zu senken, hat eher mit dem Druck der Märkte zu tun als mit der Erwartung eines weiteren Rückgangs der Inflation?

Ich denke schon, das Fed muss die Jonglierteller in Bewegung halten. Powell war selbst in der Private-Equity-Branche tätig, bevor er zum Fed kam. Gemäss den Sitzungsprotokollen der US-Notenbank der Jahre 2012/13, warnte er seinerzeit als Mitglied des Fed-Gouverneursrats häufig, dass sich Private-Equity-Investoren mit Schulden übernehmen würden und die Geldpolitik dieses Verhalten ungewollt ermögliche. Im Prinzip argumentierte er, dass dies ein Problem falscher Anreize zum Eingehen von Risiken sei und sich das Fed schuldig gemacht habe. Nach all den schönen Reden, die er vor seinen Kollegen im Fed-Vorsitz hielt, hat er jetzt guten Grund dazu, darüber nachzudenken, wie recht er hatte.

Gibt es noch weitere Probleme, wenn es um die Hinterlassenschaft der extrem niedrigen Zinsen geht?

Eine weitere Sorge betrifft die Haushaltsrechnung des amerikanischen Finanzdepartements. Die Zinskosten schiessen in die Höhe. Sie übertreffen nun sogar die Ausgaben für das Militär und absorbieren immer mehr Ausgabemöglichkeiten der US-Regierung. Dieses Problem ist eine direkte Folge der undisziplinierten Aufnahme von Schulden, die durch die niedrigsten Zinsen aller Zeiten erleichtert wurde.

Könnte der Bondmarkt angesichts der rasch steigenden Staatsverschuldung irgendwann die Geduld verlieren und rebellieren?

Am besten, wir blicken dazu ein paar Jahre zurück. Im Jahr 2020 wurden weltweit Staatsschulden im Wert von rund 18 Bio. $ mit einer Rendite von weniger als null verzinst. Wie konnte so etwas überhaupt passieren? Der Markt machte damals nicht nur keine Anstalten zu rebellieren, sondern Investoren verhielten sich so, als würden sie unter dem Stockholm-Syndrom leiden. Sie waren die Geiseln der Zentralbanken, und das schien ihnen irgendwie zu gefallen. Doch dann kam der Teuerungsschub, mit dem kaum jemand gerechnet hatte, und plötzlich verlangen sie Renditen, die sie zumindest etwas für die Inflation kompensieren. Heute spekulieren Bondinvestoren darauf, dass die Inflation zurück auf 2% sinkt, weil das Fed es so will. Ich denke aber, diese Zeiten sind passé.

In Grossbritannien und in Frankreich ist es bereits zu Erschütterungen an den Bondmärkten gekommen, ausgelöst durch Besorgnis über untragbare Budgetdefizite. Könnten das nächste Beben in den USA ausbrechen?

An unserer Konferenz von «Grant’s» Anfang Oktober trat der Investor Stanley Druckenmiller auf. Seiner Meinung nach sind die fiskalpolitischen Verstösse in den USA viel schlimmer als die Vergehen, die gegen den britischen Gilts-Markt verübt wurden. Amerika verfügt mit dem Dollar jedoch über die Reservewährung der Welt. Sie ist eines unserer stolzesten Besitztümer, aber tatsächlich ein vergifteter Kelch.

Wie meinen Sie das?

Der Status des Dollars als Reservewährung hat Amerika dazu ermächtigt, Auslandsschulden anzuhäufen und diese mit einer Währung zu finanzieren, die nur wir drucken können, wobei wir von einer scheinbar unerschöpflichen Nachfrage nach unseren Anleihen profitiert haben. Wann diese Situation eskaliert, ist schwierig zu sagen. Grossbritannien besass viele Jahrzehnte lang das Privileg der Weltreservewährung, und die USA besitzen es seit rund siebzig Jahren. Es muss also nicht sofort enden, aber ich denke, es wäre letztlich gut für Amerika, wenn das der Fall wäre.

Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass es schliesslich zu finanzieller Repression kommt, bei der Inflation absichtlich geduldet oder sogar genutzt wird, um Schulden abzubauen?

Staatlicher Dirigismus – um die Dinge beim Namen zu nennen – ist heute die vorherrschende Doktrin. Der Glaube, dass Regierungen die Geschehnisse regeln können und sollen, ist die herrschende Doktrin der Demokratischen Partei in den USA, und sie ist die heimlich herrschende Doktrin der Republikanischen Partei. Doch das alles ist nicht wirklich neu. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs etwa setzten die USA und diverse andere Länder finanzielle Repression als wirtschaftspolitisches Instrument ein. Anfang 1942 deckelte das Fed die Renditen auf Staatsanleihen, um die Kriegsbemühungen zu unterstützen. Dieses Regime blieb fast ein Jahrzehnt lang in Kraft. Finanzielle Repression hat in Amerika also eine lange Geschichte, und in Europa war sie während vielen historischen Wendepunkten in verschiedenen Ländern eine akzeptierte Doktrin.

Welche Massnahmen könnten die Regierungen dieses Mal ergreifen?

Es gibt verschiedene Arten finanzieller Repression: die explizite Variante und die gesellschaftlich auferlegte. In den USA war es im Ersten Weltkrieg eine gesellschaftliche Konvention, dass man künstlich niedrige Anleihenrenditen aus Patriotismus akzeptierte. In zahlreichen anderen Ländern war es ähnlich: teils Repression per Gesetz, teils Unterdrückung durch gesellschaftlichen Konsens. Danach, in der Grossen Depression, trennte sich ein Land nach dem anderen vom Goldstandard und verbot den Bürgern den Besitz von Gold; in den USA war das bis 1975 der Fall. De facto war finanzielle Repression im letzten Jahrhundert länger die Norm als finanzielle Freiheit. Erstaunlich ist, wie wenig die Menschen protestierten, wie bereitwillig sie sich damit abfanden.

Eine der grossen Überraschungen in diesem Jahr war der deutliche Anstieg des Goldpreises. Was ist der Grund dafür?

Möglicherweise ist die Welt zum Schluss gekommen, dass Amerikas Verschuldung untragbar ist, dass unsere Finanzlage skandalös ist und dass die Tage des Dollars als Reservewährung gezählt sind. Es ist aber auch möglich, dass der Goldpreis steigt, weil manche Investoren einfach das Momentum mögen. Ich vermute aber, dass ein Teil der Welt kein Interesse mehr am Investment Case hat, den Amerika offeriert. Ich beziehe mich dabei auf Anleihen, denn wenn man sich die groteske Dominanz amerikanischer Aktien an den Weltbörsen ansieht, interessieren sich Investoren anscheinend für kaum ein anderes Land.

Der Ökonom Herb Stein hat gesagt: Wenn etwas nicht ewig so weitergehen kann, wird es stoppen? Wann ist dieser Moment? Wie sieht das Endspiel aus?

Diese Antwort ist einfach: 1992, denn damals habe ich zum ersten Mal behauptet, es sei so weit. Doch im Ernst: Historisch betrachtet, war die Welt 1979 an einem ähnlichen Punkt wie heute. Die USA verhängten drastische Sanktionen gegen den Iran, worauf andere Nationen erschreckt realisierten, was ein Konflikt mit dem US-Schatzamt bedeuten kann. Gold verspürte infolgedessen kräftig Auftrieb. Der Preis preschte zwischen Oktober 1979 und Januar 1980 von 217 auf 850 $ vor. Wie heute bei den Sanktionen gegen Russland gab es schon damals Warnungen, dass Amerika sein Machtpotential angesichts seines baldigen Status als Nettoschuldner zurückhaltend einsetzen sollte. Aber das ist lange her, und es folgten viele glückliche Jahre finanzieller Rücksichtslosigkeit. Mit solchen Prognosen ist man daher besser vorsichtig.

Glauben Sie, dass Gold weiterhin glänzen wird?

Gold ist eine Investition in monetäres Chaos. Als Asset hat es aber auch unberechenbare Charakterzüge. Langfristig verhält es sich erwiesenermassen stabil, weshalb es für seine Wertbeständigkeit im Lauf der Geschichte berühmt ist. Doch kurzfristig kann es einem das Herz brechen. In der Baisse vom Sommer 2008 bis Ende 2015 zum Beispiel, sackte der Preis von 1900 auf 1100 $ ab. Im Kern ist Gold ein spekulativer Vermögenswert. Es ist eine Spekulation auf monetäre Denkmuster: die Überzeugung, dass es einen Nutzen als Geldwert hat. Doch selbst wenn ein Denkmuster durch historische Fakten, stichhaltige Argumente und scharfe Beobachtungen gut unterlegt ist, können es die Menschen plötzlich aufgeben, wie eine schlechte Angewohnheit.

Wenn man auf Gold setzt, lohnt es sich dann auch, in Minenaktien zu investieren?

Für mich ist Gold ein unbestechlicher, etablierter Geldwert, und Minenaktien sind eine günstige Option darauf. Interessant ist beispielsweise Triple Flag Precious Metals, eine Streaming- und Royalty-Gesellschaft. Das heisst, sie investiert direkt in Minen von Bergbauunternehmen und erhält dafür einen Anteil am Umsatz. Entsprechend hängt ihr Geschäftsgang nicht von den Kosten und Margen ab. Das Verhältnis von Chancen zu Risiken ist attraktiv, das Unternehmen wird gut geführt, das Management verfügt über fundierte Kenntnisse in der Branche und hält selbst Aktien in bedeutendem Umfang.

Angesichts der Tatsache, dass Wachstumswerte wie Nvidia die Aktienmärkte dominieren, haben Value-Strategien seit Jahren einen schweren Stand. Wie kommen Sie als Mitglied der Value-Zunft damit zurecht?

Es geht uns schon lange, lange schlecht. Wir fühlen uns wie ein Grüppchen von Leuten, die von aussen in ein Restaurant schauen. Drinnen findet ein Bankett statt, es werden die köstlichsten Speisen und Weine serviert, doch wir Value-Investoren sind davon ausgeschlossen, dürfen bloss zuschauen, die Nase gegen das Fenster gepresst.

In den vergangenen Jahren kam verschiedentlich die Hoffnung auf eine Renaissance für Value-Strategien auf, was sich aber jedes Mal als Fehlstart erwies. Warum glauben Sie weiterhin an Ihre Investmentphilosophie?

Lassen Sie es mich so formulieren: Das Unvermeidliche ist sicher, aber nicht unbedingt pünktlich. Es ist sicher, dass sich die Popularität von Investmentansätzen wie die Mode immer wieder ändert. Preisbewusstsein, eine sorgfältige Aktienanalyse und günstige Bewertungen als Sicherheitspolster: Das sind Konzepte, die in den Hintergrund gedrängt, aber nicht eliminiert worden sind. Die Baisse bei Value-Strategien hat viel mit der Geldpolitik zu tun. Investoren vertrauen darauf, dass die Zentralbanken die Börsen für immer stützen werden, und sie haben sich mit der Vorstellung angefreundet, dass der Konjunkturzyklus mittels geschickter Eingriffe der Geldpolitik abgeschafft wurde. Ideen sind aber ebenso zyklisch wie die Schwankungen von Vermögenspreisen. Daher halte ich eine Renaissance von Value-Strategien für unvermeidlich. Aber ich würde es begrüssen, wenn die Götter der Finanzmärkte damit langsam etwas vorwärts machen, denn keiner von uns wird jünger.

Jim Grant

Querdenker, die sich nicht davor scheuen, mit ihrer Meinung anzuecken, gibt es an Wallstreet nur wenige. Jim Grant gehört zu den Ausnahmen. Sein 1983 lanciertes Investmentbulletin «Grant’s Interest Rate Observer», das die Büros in Downtown Manhattan hat, ist für viele amerikanische Investoren Pflichtlektüre. Grant begann seine Karriere als Bondspezialist Mitte der Siebzigerjahre. Später verfasste er eine Zinskolumne für das Anlegermagazin «Barron’s». Im Lauf seiner Karriere hat er diverse Bücher verfasst, zuletzt «Bagehot: The Life and Times of the Greatest Victorian», eine Biografie über Walter Bagehot, den britischen Financier und Chefredaktor des «Economist» im 19. Jahrhundert
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