Freitag, November 1

Nach mehreren Long-Covid-Erkrankungen ist Hensch derart geschwächt, dass sie in ihrem Alltag stark eingeschränkt ist.

Als Anne-Claude Hensch an einem Nachmittag im März nach einer langen Zugreise auf dem Heimweg ist, fühlt sie sich erschöpft. Ein paar Gehminuten sind es noch bis zu ihrer Wohnung in Zürich Seebach. Sie überquert einen Fussgängerstreifen im Quartier, ganz langsam. Da nähert sich ein Auto. Der Fahrer wird ungeduldig, weil Hensch nicht schneller geht. Und hupt sie an.

«Der Mann dachte wohl, ich wollte ihn ärgern», sagt die AL-Politikerin. Aber sie kann nicht anders. Hensch hat Long Covid. Der Nachhauseweg – sie kommt an diesem Tag von einem Termin bei ihrem Kinesiologen ausserhalb von Bern – kostet sie ihre letzte Energie.

Mehrere Corona-Infektionen haben sie derart geschwächt, dass die 57 -Jährige seit rund sieben Monaten in ihrem Alltag stark eingeschränkt ist. Vermeintlich einfache Aufgaben kann sie kaum mehr bewältigen. Staubsaugen ist ein Kraftakt, Gemüse schnippeln ebenso. Auch nach dem Gespräch mit der Journalistin im Gemeinschaftsraum des Mehrfamilienhauses, in dem sie mit ihrem Mann lebt, braucht sie eine Pause.

Vor kurzem hat Hensch deshalb einen Entscheid gefasst, der ihr schwergefallen ist: Die ausgebildete Heilpädagogin, die sich in den letzten Jahren ganz der Politik widmete und für den Regierungsrat kandidierte, gibt ihre Ämter ab. Am Montag wurde sie aus dem Kantonsrat verabschiedet, wo sie seit Mai letzten Jahres Fraktionspräsidentin war. Auch auf ihren Sitz in der Schulpflege Schwamendingen verzichtet sie

Hensch sagt: «Long Covid hat mich aus meinem Leben katapultiert.»

Nur sieht man ihr das nicht auf den ersten Blick an. Sie wirkt vital. So geht es vielen Betroffenen.

Die Spätfolgen von Corona-Infektionen geben der Wissenschaft Rätsel auf. Die Liste von Symptomen reicht von Müdigkeit über Atemnot, Husten, Verdauungsproblemen, Herzrasen bis hin zu einem veränderten Immunsystem.

Noch immer ist nicht genau erwiesen, was im Einzelfall die lange anhaltenden Beeinträchtigungen auslöst. Starke Beschwerden können nach einer schweren Corona-Erkrankung mit Organschäden auftreten. Doch es leiden auch Personen an Long Covid, die nur eine leichte Covid-19-Infektion durchgemacht haben.

Manche Patienten erholen sich nach einigen Wochen wieder, andere können sich auch nach über einem Jahr nur unter grösster Anstrengung fortbewegen. Weil das Krankheitsbild so vielfältig ist, gibt es keine verlässlichen Zahlen, wie viele Personen hierzulande von Long Covid betroffen sind.

Drei Wochen ausser Gefecht gesetzt

Anne-Claude Hensch gehört zu denjenigen, die heftig an Corona erkranken, das erste Mal im Mai 2022. Drei Wochen lang ist sie ausser Gefecht gesetzt, und es dauert weitere Wochen, bis sie sich vollständig erholt hat. Erst als sie im darauffolgenden Sommer in die Ferien geht und ihr das Wandern leichtfällt, denkt sie: Jetzt bin ich wieder fit. Ende August wird sie von der Vollversammlung der AL als Regierungsratskandidatin nominiert. Eine intensive Zeit steht ihr bevor.

Doch wenige Monate später, zum Jahreswechsel, wird sie erneut krank. Eine Darmgrippe. Wieder fällt sie drei Wochen lang aus. Es ist Anfang 2023, die Pandemie ist kaum ein Thema mehr, und so denkt Hensch nicht an Corona. Erst im Nachhinein fällt ihr auf, dass sie fast die gleichen Symptome wie im Frühling 2022 hatte. Doch viel Zeit, um darüber nachzudenken, hat sie nicht. Der Endspurt im Wahlkampf steht an. «Ich habe mich durch die Podien gequält.»

Am 12. Februar 2023 finden die Regierungsratswahlen statt, Hensch wird nicht gewählt. Danach kann sie es ruhiger angehen lassen und sich wieder voll auf ihr Mandat im Parlament konzentrieren.

Bis sie im Mai wieder krank wird. Und diesmal will sich eine echte Erholung auch nach Monaten einfach nicht einstellen. Im Kantonsrat und in der Schulpflege muss sie sich von Sitzung zu Sitzung hangeln.

Schliesslich bricht der Herbst an und mit ihm ein Oktober, in dem die Schweiz nochmals von einer Corona-Welle erfasst wird. Auch Anne-Claude Hensch erkrankt, ein Selbsttest zeigt ein positives Ergebnis. «Von diesem Zeitpunkt an wurde es einfach nicht mehr besser.» Nicht nur körperliche Aktivitäten fallen ihr schwer, auch ein hoher Geräuschpegel oder lange Gespräche setzen ihr zu.

Auch ihr Umfeld bemerkt den gesundheitlich schlechten Zustand. Im Kantonsrat spricht ihre Sitznachbarin sie auf Long Covid an.

Hensch denkt sich: «Bitte nicht.»

Trotzdem ringt sie sich zu einem Termin bei ihrer Ärztin durch. Diese stellt fest, dass einige Laborwerte im Keller sind. Sie hat einen Mangel an Vitamin D3 und zu wenig Omega-3-Fettsäuren im Blut. Für die Ärztin sind dies Hinweise, dass Hensch tatsächlich an Long Covid leidet. Eine eigentliche Diagnostik ist schwierig, weil spezifische Tests bis heute fehlen. Zwar hat eine Studie kürzlich ergeben, dass sich im Blut bestimmte Eiweissstoffe nachmessen lassen, doch das neue Verfahren kann noch lange nicht in der ärztlichen Routine eingesetzt werden.

So ungenau wie die Diagnostik ist, so vielfältig sind die Therapiemöglichkeiten. Henschs Ärztin schlägt ein sogenanntes Intervall-Hypoxie-Hyperoxie-Training vor. Dabei wird über eine Maske abwechselnd viel und wenig Sauerstoff eingeatmet, was das Zellwachstum fördern soll. Diese Art von Therapie wird etwa bei Bergsteigern für das Höhentraining, aber auch bei Lungenkranken eingesetzt. Hensch ist einverstanden. Zusätzlich nimmt sie Präparate gegen die Mangelerscheinungen ein und geht weiterhin zu einem Kinesiologen.

Die Therapie beginnt mit Frust. Lange will sich keine Besserung einstellen, obwohl Hensch dreimal wöchentlich unterschiedlich dosierten Sauerstoff einatmet. Sie fühlt sich im Gegenteil noch schlechter. Bei ihr kommt erschwerend dazu, dass Long Covid vermutlich das Epstein-Barr-Virus in ihrem Körper reaktiviert hat, welches Pfeiffersches Drüsenfieber auslöst. Das Virus gilt als Risikofaktor für Spätfolgen einer Corona-Erkrankung.

In der Therapie braucht es vor allem eines: viel Geduld. Long-Covid-Patienten lernen, dass sie sich nicht überanstrengen dürfen. Sonst kann es zu einem «Crash» mit Schwindel, Übelkeit oder Herzrasen kommen. Hensch erlebt einen solchen Crash nach einer zweieinhalbstündigen Kommissionssitzung. Nach dieser ist sie zwei Tage lang ausser Gefecht gesetzt.

Danach ist für sie klar: «Um gesund zu werden, muss ich mich jetzt zurücknehmen.» Es ist der Zeitpunkt, an dem sie sich entscheidet, ihre Ämter abzugeben, obwohl sie ihr Engagement in der Politik liebt. Aber es ist alles zu viel geworden. An den Ratssitzungen kann sie nicht mehr teilnehmen.

Die AL ist mit fünf Mitgliedern die kleinste Fraktion im Kantonsrat. Alle sind in einer Kommission vertreten und betreuen zusätzliche Themen von Kommissionen, in denen sie nicht vertreten sind. Dadurch entstehe im Vergleich mit den anderen Fraktionen ein beträchtlicher Mehraufwand. «Wir alle wenden mindestens ein 40-Prozent-Pensum auf.» Dieses könne sie nicht mehr leisten.

Sie habe gewusst, dass der Rücktritt die richtige Entscheidung sei, sagt Hensch. Und doch habe sie einen Trauerprozess mit vielen Tränen durchmachen müssen.

Kleider waschen geht, Kleider aufhängen nicht

Lange musste sie auf einen Therapieerfolg warten, nun geht es aufwärts. Ende März zeigt eine Untersuchung, dass ihre Belastungsfähigkeit langsam zunimmt. Mittlerweile geht sie noch zweimal wöchentlich in die Sauerstofftherapie. Die Fortschritte spürt nicht nur sie selbst, sondern auch ihr Mann. Gemeinsam machen sie oft Spaziergänge im Quartier. Am Anfang lagen nur 20 Minuten drin. Mittlerweile sind sie wieder 50 Minuten unterwegs. «Immer noch in einem gemächlichen Tempo», sagt Hensch. «Aber es ist eine Verbesserung.»

Dennoch ist sie von einem Alltag, wie ihn die meisten Leute in ihrem Umfeld leben, weit entfernt. Einkaufen beim Grossverteiler etwa liegt nicht drin. «Das Gewusel in den Läden ist mir schnell zu viel.» Beim Haushalten ist sie auf die Unterstützung ihres Mannes angewiesen, der seit einem Jahr pensioniert ist. Als Beispiel nennt sie das Kleiderwaschen. «Die Wäsche in die Maschine zu geben, schaffe ich gerade noch», sagt sie. «Aber sie danach aufhängen? Damit wäre ich komplett überfordert.»

Ohne Politik wird Anne-Claude Hensch wieder viel Zeit in ihrem Leben haben, während die Menschen in ihrem Umfeld beruflich eingebunden sind. Sorgen, dass sie vereinsamen könnte, macht sie sich nicht. «Ich habe ein gutes Netzwerk.» Sie freut sich darauf, wieder mehr Zeit für ihren Freundeskreis zu haben. Ein Freund habe ihr zu ihrem Rücktrittsentscheid gratuliert. «Er sagte: ‹Ich finde es gut für deine Gesundheit, dass du zurücktrittst. Und für uns ehrlich gesagt auch›.» Wegen ihres Engagements in der Politik sei sie oft absorbiert gewesen.

Hensch hat sich an die neue Langsamkeit in ihrem Leben gewöhnt. Auch wenn diese nicht in die Gesellschaft passe, sagt sie. «Wir gaukeln uns vor, dass wir immer noch eins obendrauf setzen können. Alles muss schnell gehen. Wir glauben, dass wir alles in der Hand haben, wenn wir uns genug Mühe geben. Aber so ist es nicht.» Eine tiefgreifende Erschöpfung wie Long Covid könne jeden treffen. «Wir müssen einen solidarischen Umgang damit lernen.»

Diese Gedanken haben auch einen finanziellen Hintergrund. Wenn sie ihre politischen Mandate abgibt, erhält Hensch keine Entschädigungen mehr. Bis zur ordentlichen Pensionierung fehlen ihr sieben Jahre. Eine Stellvertreterlösung kennt der Zürcher Kantonsrat nicht, obwohl die zuständige Kommission schon lange darüber berate, sagt Hensch. In ihrem Rücktrittsschreiben, das am Montag im Parlament verlesen wurde, hat sie darum ein Appell an ihre Kolleginnen und Kollegen im Rat platziert: «Machen Sie bitte vorwärts!»

Was ihr bleibt, ist ein schaler Nachgeschmack. Hensch sagt: «Für meine Erkrankung kann ich nichts. Ich habe mich impfen lassen und mich an alle Massnahmen gehalten.» Schnelle unbürokratische Hilfsangebote für Menschen, die durch Long Covid länger nicht arbeiten können, existierten bislang nicht.

Obwohl Hensch nicht weiss, ab wann sie wieder berufstätig sein kann, hat sie sich gegen eine Anmeldung bei der Invalidenversicherung entschieden. «Ich bin eine hoffnungslose Optimistin», sagt sie. «Und ich bin neugierig darauf, wie meine Zukunft aussieht.»

Sie kann sich auch eine ohne Politik vorstellen.

Exit mobile version