Donnerstag, September 19

Die Geschichte einer Spätzünderin aus Wollishofen.

Nirgendwo werden grössere Geschichten geschrieben als im Sport. Da steckt alles drin: Leidenschaft, Drama, grosse Siege, grosse Niederlagen, Entbehrung, Enttäuschung, Entfesselung. Doch beim Breaking – im Volksmund fälschlicherweise «Breakdance» genannt – geht es noch um mehr als das. Dieses Element der Hip-Hop-Kultur ist geprägt von Tradition und Codes, die es zu respektieren und in einem ureigenen Sinn für sich zu interpretieren gilt.

Genau dem hat die Zürcherin Rebecca Annies ihr Leben verschrieben. Erst schleichend, abtastend, ganz ungezwungen und naiv als Wollishofer Teenager, dann, mit jeder neuen Inspirationsquelle, immer bewusster.

Eine Veteranin der Szene

Heute steckt sie ganz tief im Kaninchenbau. Heute ist sie als B-Girl Becca gleichzeitig eine Veteranin der Szene und so gut wie nie zuvor: Im Dezember wird die 38-Jährige die Schweiz an den inoffiziellen Einzel-Weltmeisterschaften in Rio de Janeiro vertreten – bereits zum zweiten Mal gewann sie im Frühjahr 2024 die hiesige Ausscheidung. Und wäre da nicht dieser Meniskusriss im Juni 2023 gewesen, dann hätte es vielleicht auch für eine Qualifikation für die Olympischen Spiele gereicht – wer weiss.

Am Fokus fehlt es nicht: Wer sie schon einmal an einem Wettbewerb hat tanzen sehen oder sich auf Youtube die Aufzeichnungen angeschaut hat, sieht eine ernste Person, deren Augen böse funkeln oder wie in einem Tunnel verschwinden können – sie scheint höchst konzentriert auf ihre Aufgabe zu sein.

Darauf angesprochen, lacht sie und sagt: «Ja, da ist man schon in einem Film drin. Man schlüpft ein Stück weit in eine Rolle, man ist voll im Zweikampf.» Nachdem getanzt worden ist, fallen sich die Gegnerinnen meist in die Arme – denn in der Szene der besten B-Girls und B-Boys kennen sich fast alle, egal ob aus Asien, Amerika, Afrika, Australien oder dem Norden von Europa. Wer so viel Schweiss und Tränen auf dem Tanzboden lässt, ist aus dem gleichen Holz geschnitzt.

«Viele verstehen gar nicht, wie schwer das alles ist», sagt die Innenarchitektin, die in einem 70-Prozent-Pensum Büros, Restaurants, Bars und Lokalitäten konzipiert und ausstattet, mehrmals während des Gesprächs – und meint damit nicht die Innenarchitektur. «Bis man mal einen Schritt weiterkommt, die nächste Hürde nimmt, braucht es immer extrem viele Trainingsstunden.»

Und ohne die nötige Physis ist sowieso nichts möglich: Wer nicht sicher im Handstand ist, keine gute Koordinationsfähigkeit hat, wer nicht in der Lage ist, eine gute Körperspannung herzustellen und mit den Handgelenken, Knien und Ellbogen nicht so einiges aushält – der muss eigentlich gar nicht anfangen.

Becca hält einiges aus. Seit einem knappen Vierteljahrhundert tanzt sie schon zu den «Breaks», jenen überleitenden Formteilen eines Funk-Stücks, aus denen die meisten Rap-Beats aufgebaut sind. Lange einfach so, für sich, gemeinsam mit Freunden und Freundinnen, welche die gleiche Leidenschaft für die Kultur haben.

Entweder im Jugendkulturhaus Dynamo, wo wir uns mit ihr treffen und wo sie noch heute mehrmals wöchentlich beim Training oder beim Unterrichten anzutreffen ist. Oder in ihrem freigeräumten Wiediker Wohnzimmer oder irgendwo draussen in der Stadt.

Irgendwann vor vielleicht zehn, zwölf Jahren kam dann das mit den Wettkämpfen dazu. «Ich bin eher zurückhaltend als Person – ich musste mich da erst dran gewöhnen: Man präsentiert sich, man muss die Bühne für sich beanspruchen, man muss Selbstbewusstsein entwickeln.»

Dass sie da eher eine Spätzünderin ist, muss kein Nachteil sein: «Es zeigt sich immer mehr, dass sich die Erfahrung auszahlt. Heute kann eine 40-jährige Person gegen eine 16-jährige tanzen – wie bei den Olympischen Spielen geschehen –, und die 16-jährige ist nicht unbedingt im Vorteil. Dennoch, das Niveau der neuen Generation ist inspirierend, und wir verfolgen mit Spannung, welche Messlatten in den nächsten Jahren verschoben werden.»

Wer nicht sicher im Handstand ist, wer nicht in der Lage ist, eine gute Körperspannung herzustellen – der muss eigentlich gar nicht mit Breaking anfangen.

«Viele fiese Kommentare kursieren im Netz»

Das Stichwort ist gefallen: Die Olympischen Spiele in Paris, an denen Breaking zum ersten Mal offiziell dazugehörte, haben die Disziplin ins Licht der Weltöffentlichkeit gebracht. Nur leider nicht ganz so wie erhofft: Statt über die stupenden Fähigkeiten der 32 B-Girls und B-Boys zu staunen, macht sich das Internet seit einigen Wochen ausschliesslich über die Australierin Raygun lustig. Die Tänzerin, Gewinnerin der Ausscheidung in Ozeanien, heimste keinen einzigen Jury-Punkt ein und imitierte recht unbeholfen die berühmten Beuteltiere ihres Heimatlandes.

Die Clips und Memes gehen seither viral – mitsamt bitterbösen Kommentaren: Es sei ja kein Wunder, dass Breaking an den nächsten Spielen 2028 in Los Angeles nicht mehr dabei sei, wenn so getanzt werde, heisst es etwa.

Becca stösst den einzigen Seufzer des Interviews aus: «Es kursieren so viele fiese Kommentare und Fehlinformationen über sie im Netz. Dass das so breitgetreten wird, tut mir extrem leid. Dabei hat sie sich in Ozeanien offiziell qualifiziert. Schön zu sehen, dass sie wenigstens die Breaking-Community grösstenteils unterstützt.» Dass dabei die Leistung der anderen B-Boys und B-Girls fast vergessengehe, sei ein weiterer negativer Effekt der Angelegenheit.

Beim Fotoshooting in einem kleinen Tanzraum im ersten Stock packt Becca gleich der Eifer: Kaum hat sie sich umgezogen, die Wollmütze übergestreift und die Turnschuhe gebunden, wirbelt sie auch schon über den Boden, dreht sich auf dem Kopf, verharrt mehrmals in einer Art Kopfstand in Rücklage – die rechte Ferse auf dem rechten Ellbogen aufgestützt, die linke Ferse auf dem rechten Knie aufgestützt.

«Im Moment tanze ich viel für mich, probiere viel aus», sagt sie. «Ich trainiere zum Beispiel gerade den einhändigen Handstand mit Drehung und versuche, mich mit einem gewissen Freiheitsgefühl auf den Wettkampf einzustellen.» Denn klar: Bei Wettkämpfen entscheidet auch die Taktik. Wer einfach die schwierigsten Bewegungsabläufe aneinanderreiht, hat das Prinzip nicht verstanden: Breaking ist ein Tanz. Es geht darum, sich stilvoll zur Musik zu bewegen, auf den Gegner einzugehen und nicht alles Pulver gleich zu verschiessen.

Schiesst sie wohldosiert, hat Becca in Rio die Chance, unter die besten 16 Tänzerinnen der Welt vorzustossen.

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