Das Zürcher Stadtparlament spricht sich deutlich für Strichzonen aus. Doch es gibt Widerspruch von unerwarteter Seite.
Kein Ort in Zürich steht mehr für Enthemmung als die Langstrasse. Wochenende für Wochenende torkeln Gruppen von Betrunkenen über die Trottoirs, decken sich in 24-Stunden-Shops mit Zigaretten und Fast Food ein – und in dunklen Gassen mit Drogen. Sie sind auf der Suche nach Party, Rausch und Sex.
Letzteren gibt es an der Langstrasse auch gegen Geld. Mitten im abendlichen Getümmel stechen jene Frauen vor den Rotlichtbars heraus, die auch bei tiefen Temperaturen im kurzen Röckchen draussen stehen und rauchend nach potenziellen Freiern Ausschau halten.
Was hier an der Langstrasse passiert, wissen alle: Die Drogen, die Strassenprostitution, sie gehören dazu – auch wenn sie illegal sind.
Nun will das Zürcher Stadtparlament das Recht der Realität anpassen. Zumindest in Bezug auf die Sexarbeit: Der Stadtrat soll dafür sorgen, dass geeignete Strassenabschnitte im Gebiet von Lang- und Kernstrasse zu legalen Strassenstrichzonen werden. Dies forderten SP, AL und Mitte in einem Vorstoss, und sie konnten am Mittwoch auch die Mehrheit des Parlaments davon überzeugen.
SP: «Das wirksamste Mittel gegen Ausbeutung»
Anna Graff (SP), die das Postulat im Parlament begründete, sagte es so: Die Kriminalisierung der Sexarbeitenden habe zur Folge, dass diese entweder abseits der Strasse anschaffen müssten, was risikoreich sei. Oder sie suchten sich ihre Freier trotz Verbot auf der Strasse und liefen Gefahr, erwischt und bestraft zu werden.
Die Illegalität führe letztlich dazu, dass die Sexarbeiterinnen den Kontakt mit der Polizei meiden würden – auch dann, wenn sie auf Hilfe angewiesen wären. Und auch für die Mitarbeitenden von Beratungs- und Fachstellen sei es schwieriger, den Kontakt zu den Prostituierten zu finden. «Legal arbeiten zu können, ist ein langjähriges Anliegen von Sexarbeiterinnen und das wirksamste Mittel gegen Ausbeutung und Gewalt», sagte Graff.
Von linker Seite erhielt sie dafür viel Zustimmung, und auch die FDP fand die Liberalisierung im Grundsatz richtig. Patrick Brunner betonte aber, dass man die Anwohner nicht vergessen dürfe. Diese seien durch das Partyvolk, die Drogenproblematik und die Prostitution schon heute stark belastet. Das müsse bei der Umsetzung berücksichtigt werden. Die GLP unterstützte die Strichzone ebenfalls nur mit einem Vorbehalt: «Es braucht flankierende Massnahmen», sagte Serap Kahriman. Der Schutz der Sexarbeitenden müsse verbessert werden. Denn der Grossteil von ihnen werde ausgebeutet.
Gegner hatten die Strichzonen nur wenige, einerseits bei der SVP, andererseits – ein bisschen überraschender – auch bei den Grünen. Die SVP lehnte das Postulat rundweg ab, es sei doch absurd, etwas Illegales legal zu machen, sagte Stephan Iten. «Da könnten sie ja auch legale Drogenzonen an der Langstrasse fordern.» Am Sihlquai habe die Stadt den Strassenstrich aufgehoben, diesen nun in einem stark belasteten Quartier wieder aufleben zu lassen, sei widersinnig.
Die Belastung fürs Quartier war das, was auch einige Grüne wie Markus Knauss umtrieb: «Es ziehen immer mehr Leute von der Langstrasse weg, weil sie es dort nicht mehr aushalten.» Mit den Strichzonen werde ein Magnet für Männer geschaffen, «die nicht unbedingt die nettesten sind». Er zweifelte zudem daran, dass die Massnahme die Situation für die Frauen verbessert.
Fachstelle: «Nicht zu hohe Auflagen»
Letzteres sieht man selbst bei Fachstellen skeptisch. Beatrice Bänninger ist die Geschäftsführerin des Vereins Solidara Zürich, welcher die Beratungsstelle Isla Victoria betreibt. Diese berät Sexarbeitende in sozialen, gesundheitlichen und rechtlichen Themen. Bänninger macht sich stark dafür, Sexarbeit zu entkriminalisieren. Insofern sei der Entscheid des Gemeinderats denn auch zu begrüssen.
Gleichwohl hält sich ihre Freude in Grenzen: «Der Nutzen hängt sehr stark davon ab, wie die Einführung der Strichzonen umgesetzt wird.» Dies ist noch offen, der Stadtrat wird dem Parlament bis in zwei Jahren einen Vorschlag unterbreiten müssen.
Wichtig ist aus Bänningers Sicht, dass die Auflagen für die Sexarbeitenden nicht zu hoch sind. Wer heute in einer der drei Strichplatzzonen anschaffen will, braucht dazu eine offizielle Bewilligung zur Ausübung der Strassenprostitution. «Dies schliesst aber viele aus», sagt Bänninger. Viele Frauen im Milieu halten sich ohne Arbeitserlaubnis in der Schweiz auf und haben deshalb keine Chance, an eine solche Bewilligung zu kommen. «Wird es auch an der Langstrasse eine solche Bewilligung brauchen, wird ein grosser Teil der Frauen weiterhin im Verborgenen anschaffen müssen.»
Bänninger plädiert zudem dafür, auf ein Nachtfahrverbot an der Langstrasse zu verzichten. Ein solches wird im Postulat für den Abschnitt Brauer- bis Dienerstrasse explizit angeregt, um das Quartier zu entlasten. Den Sexarbeitenden jedoch würde dies schaden, sagt Bänninger. Denn viele Freier kommen mit dem Auto und halten so Ausschau nach den Frauen. Schon das heute gültige Fahrverbot tagsüber habe sich negativ auf das Geschäft der Prostituierten ausgewirkt. «Kommt es zu einem Nachtfahrverbot, wird das die Abwanderung der Sexarbeitenden noch weiter verstärken.»
Schon heute finde eine Verlagerung in die Agglomeration statt, weil die Langstrasse für die Prostituierten und die Rotlichtetablissements zu teuer geworden ist. Verschwänden die Sexarbeitenden von der Langstrasse, werde es schwieriger für die Beratungsstellen, mit ihnen in Kontakt zu treten.
Quartierverein: «Es braucht ein Nachtfahrverbot»
Ganz anders sieht man es im Quartier: «Ein Nachtfahrverbot braucht es zwingend», sagt Felix Bosshard, Vizepräsident des Quartiervereins Aussersihl-Hard. Sonst gebe es noch mehr Lärm an der Langstrasse. «Die Belastung ist heute schon gross genug.» Man habe sich zwar daran gewöhnt, ein Hotspot der Vergnügungsindustrie zu sein, aber das Limit sei erreicht. Deshalb schaut er auch der Einrichtung der Strichzonen skeptisch entgegen. «Für uns ist es zentral, dass uns der Stadtrat in die Projektierung einbezieht.»
Bosshards Hoffnung ist durchaus berechtigt. Denn am Mittwoch stimmte das Parlament dem Postulat mit der Ergänzung zu, dass die Strichzonen «quartierverträglich» gestaltet werden sollten. Ob und wie das geht, wird sich bis in zwei Jahren zeigen.