Donnerstag, September 19

Ein Blick vor Ort zeigt: Ökologie steht für die wenigsten Bewohnerinnen und Bewohner im Vordergrund.

Die Anfänge der Siedlung Greencity waren von Kontroversen um den Gestaltungsplan des Modellquartiers begleitet. Zwängerei durch Umwelt- und Sozialauflagen, monolithische Betonbauten in gleichförmiger Architektur, so lauteten Kritiken. Die Vorbehalte gegenüber der Überbauung auf dem Areal der ehemaligen Sihl-Papierfabrik am Zürcher Stadtrand waren gross, als 2017 die ersten der insgesamt 731 Wohnungen bezogen werden konnten.

Greencity wurde nach den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft erbaut: Es sollte eine Siedlung sein, die gut fürs Klima ist. Wer lebt heute dort – und wie?

Das Café Olive ist Teil der Überbauung. Meret und Mandeep Sagoo, die in der Siedlung wohnen, sind oft hier. Das junge Paar lebte einige Jahre in Irland. Mandeeps Familie ist in London beheimatet. Im Juni 2022 sind sie nach Zürich nach Greencity gezogen.

«Hier habe ich keine Angst, als Frau allein mit dem Hund rauszugehen – anders als in Oerlikon», sagt Meret Sagoo. Die Juristin ist in Zürich geboren und sagt, sie empfinde darüber hinaus das soziale Umfeld mit vielen verschiedenen Nationalitäten als bereichernd.

Mandeep Sagoo wohnte zunächst acht Monate allein in einem Appartement, bevor die beiden gemeinsam nach Greencity übersiedelten. Er, der beruflich als Product-Manager tätig ist, möchte wie damals in London wieder seine Dienste als Freizeit-DJ anbieten.

«Das Beste aus beiden Welten», so beschreibt er die Wohnsituation in der 4,5-Zimmer-Wohnung bei einer Miete von 3930 Franken: Urbanität und Bezahlbarkeit.

Die Idee von Greencity war, dass alltägliche Besorgungen im Quartier gemacht werden können. Doch noch ist nicht alles in erreichbarer Nähe. Ein Arzt zog wieder fort aus dem Quartier, eine Apotheke fehlt. Unter jüngeren Leuten sei eine grössere Fluktuation zu bemerken, häufig aus beruflichen Gründen oder weil eine Beziehung ende, sagen Meret und Mandeep Sagoo. Positiv empfinden beide, dass es viele junge Familien mit Kindern in das Quartier zieht.

Bei einer Volksabstimmung im Jahr 2008 entschied das Zürcher Stimmvolk mit einer Dreiviertelmehrheit, den Weg zu einer 2000-Watt-Gesellschaft zu beschreiten. Die Anfänge von Green City liegen noch weiter zurück: Die Planung begann im Jahr 2000, 2014 war Baubeginn. Für das Generalunternehmen Losinger Marazzi bedeutete dies, ein Grossprojekt mit 12 verschiedenen Eigentümern für 13 Gebäude auf 8 Hektaren zu erstellen.

Um die Ausrichtung gab es politische Auseinandersetzungen. Im Gemeinderat wurde schliesslich von der links-grünen Mehrheit ein Anteil an Genossenschaftswohnungen von einem Drittel für das neue Quartier durchgesetzt.

Die Nachfrage ist gross: Momentan verzeichnen die Genossenschaften Hunderte von Anfragen wegen Wohnraum im Quartier.

Manu Heim, die seit 2017 in der Siedlung lebt, bezeichnet sich als Genossenschaftskind. Mit dem Erstbezug im Jahr 2017 gehört ihre Familie zu den Pionieren im Quartier. Zusammen mit Tochter Lenja hat sie sich im Café Wüst eingefunden. Heim erzählt von ihrem Engagement in der Siedlungskommission (Siko), in der drei Genossenschaften des Areals vertreten sind. Ziel sei es, die Menschen des Quartiers zusammenzubringen und einer Anonymität vorzubeugen.

«Das Quartier ist nicht geschichtslos. Im Gestaltungsplan atmet der Geist der nuller Jahre.» Damit meint Heim, die eine Stelle an der Universität Zürich bekleidet, die Idee von Greencity als Dorf in der Stadt – mit urbaner Gesinnung. Ihr eigener Lebensentwurf passe nicht in eine Agglomeration. Dennoch lege sie Wert darauf, dass man einander kenne. Im Quartier lebt eine grosse Zahl gut ausgebildeter Expats.

Tochter Lenja kommt in ihrer Aufzählung auf dreizehn Sprachen, die in dem 2023 eröffneten Schulhaus Allmend vertreten seien. Die Schule bietet Nachmittagsbetreuung, eine Mensa und spezielle Förderungen von Sprachen bis Begabtenförderung.

In Greencity ist die App «beUnity Manegg» das verbindende Element. Hierüber laufen der Austausch von Informationen über Anlässe wie Tauschbörsen und Märkte oder Verkäufe von Gebrauchsartikeln – vom Babyflaschenwärmer bis zum Ikea-Regal. Es gibt Gruppenaktivitäten wie das «Guerilla-Stricken» und den Filmklub. Oder Hinweise auf Falschparker. Hier werden Projektideen und Kochrezepte geteilt. 1515 Accounts zählt die App, die von Manu Heim als Administratorin betreut wird.

Ein Merkmal der Umgebung ist die allgegenwärtige Präsenz von Kindern und ihren Betreuungspersonen – zumeist Frauen. So entstanden auf dem Areal sieben Kindergärten und Horte.

Die Bewohnerin Cristina Solé lebt seit vier Jahren in Greencity. Für ihre 60-Quadratmeter-Wohnung, die nicht genossenschaftlich ist, bezahlt sie 2350 Franken. Die Wohnung sei komfortabel, und sie erlebe keinen Zwang zu ökologischem Verhalten, sagt die 72-Jährige. Die Pensionärin kam vor vielen Jahren von Barcelona in die Schweiz und arbeitete für Behörden als Dolmetscherin. Schmunzelnd fügt sie hinzu, dass die Mieten in Barcelona günstiger seien. Trotz den nüchtern anmutenden Betonbauten schätze sie die Nähe zur umgebenden Natur des Sihltals und der Albiskette.

Am kulturellen Leben nimmt Solé nicht so sehr teil; sie geniesse die Anonymität. Vorteilhaft sei die gute Erreichbarkeit von Innenstadt und Flughafen. Seit ihrer Pensionierung beschäftige sie sich mit Malen und dem Hüten der Enkelkinder.

Im Quartier sei viel junges Leben mit unterschiedlichen Nationalitäten und einer grossen Zahl von Akademikern. Es lasse sich hier einfach leben – die Haltestelle Morgental mit besseren Einkaufsmöglichkeiten sei gut mit dem Bus zu erreichen, zum See seien es mit dem Tram acht Minuten.

Die Kritik an Gestaltung und Realisierung von Greencity ist bei den Bewohnern offenbar kein grosses Thema. Das soziale Leben, die Möglichkeiten für Familien, Kinder und eben auch Singles stehen im Alltag im Vordergrund.

Die «Seele» des Quartiers hat der Künstler Lukas Sander zu fassen versucht. «Unfinished – eine Heimsuchung»: So lautet der Titel des Videowalks, den Sander installiert hat. Der Konzeption des Rundgangs gingen zweijährige Recherchen voraus. Die Teilnehmer werden per Film, abgespielt auf einem Tablet, durch Greencity, unter der Siedlung hindurch sowie darüber hinweg geführt.

Via Kopfhörer leitet und begleitet eine lyrische Stimme durch die urbanen Schauplätze: «Eine künstliche Landschaft als Wüste aus Steinen . . . um es jeglicher Belebung so schwer wie möglich zu machen», ertönt es aus den Kopfhörern. Es ist ein Auszug aus dem facettenreichen Rundgang durch Gebäude, Tiefgaragen über Plätze bis hin zu versteckten Brachflächen. «Eine Wüste der Rationalität, in der kein noch so kleiner unerklärlicher Rest existiert», tönt es weiter.

In der Tat lässt die fast lückenlose Versiegelung mit dem Vulkangestein Andesit als Pflaster über dem zentralen Maneggplatz für Zufälliges kaum Raum.

Der Gesamtprojektleiter für Greencity war Alain Capt bei Losinger Marazzi. Er sagt, dass heute der Biodiversität und einer grüneren Gestaltung von Anfang an wohl grössere Bedeutung zukommen würde. Laut ihm tragen die gewachsenen, vor allem genossenschaftlichen Strukturen jedoch ihren Teil zur Nachhaltigkeit bei.

So sind es die Bewohner, die in Eigeninitiative für frisches Grün in Greencity sorgen. Hochbeete und Rankenpflanzen setzen erste Akzente in einem Quartierbild mit stark funktionaler Struktur – Weichzeichner in einem Siedlungsbild mit strengen Linien und harten Kontrasten.

Derweil wird zehn Jahre nach Baubeginn das letzte Gebäude des ersten in der Schweiz zertifizierten 2000-Watt-Areals erstellt: ein Neubau mit 179 Alterswohnungen und 3500 Quadratmetern Büro- und Gewerbeflächen. Die Vermarktung beginnt im dritten Quartal dieses Jahres. Das Herzstück, laut Beschreibung, soll dann ein begrünter Innenhof mit Bäumen, Beeten und Sitzbänken bilden.

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