Mittwoch, Oktober 9

Deutschland und Frankreich, die europäischen Führungsnationen, erfüllen ihre Aufgabe nicht. Andere sollten jetzt in der Ukraine-Politik die Initiative übernehmen.

Auch der Husarenritt auf russischem Territorium Richtung Kursk täuscht nicht darüber hinweg: Die Ukrainer geraten militärisch immer stärker in Bedrängnis. Über Kiew ziehen dunkle Wolken auf, denn die Überlebenshilfe aus dem Westen droht abzunehmen.

Schlechte Nachrichten kommen aus Berlin. Deutschland, nach den USA der zweitwichtigste Geber, will die Hilfe kürzen. Nach dem mühsam erreichten Haushaltskompromiss wies Bundeskanzler Olaf Scholz den Finanzminister an, vorläufig keine weiteren Militärhilfen zu bewilligen. Stattdessen sollen Erträge aus von der EU eingefrorenen russischen Guthaben überwiesen werden. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, aber die Kombination aus sozialdemokratischer «Friedenspolitik» und dem Sparreflex der FDP stellt die Unterstützung des angegriffenen Landes infrage.

Brüssel muss und kann mehr tun

Und die grösste Stütze, die USA? Dort ist bis zum Wahltag alles offen. Auf die Supermacht ist kein Verlass mehr. Von einigen zehntausend Wechselwählern in den Swing States hängt es ab. Gewinnt Trump – immer noch eine sehr reale Möglichkeit –, will er schnell einen Waffenstillstand herbeiführen. Der «Deal» wird zulasten der Ukraine gehen. Aber auch wenn Harris ins Weisse Haus einzieht, ist ungewiss, ob sie den Kurs von Präsident Biden fortsetzt.

Und die EU? Die ist in den Ferien. Egal, wie dramatisch sich die Ereignisse in der Nachbarschaft zuspitzen. Auch in diesem Jahr gilt: Schon im Juli, aber spätestens im August übermannt die EU ein tiefer Sommerschlaf, und es wird still in Brüssel. Unser Korrespondent berichtet von dunklen Fluren im «Berlaymont», dem Sitz der Kommission. Man hört dort das Echo der eigenen Schritte und erschrickt, wenn einem der Wachmann entgegenkommt.

Wie verträgt sich das mit dem Selbstbild der EU als geopolitischer Akteur? Natürlich schlecht. Aber dieses Bild ist wahrscheinlich sowieso schief. Denn die 27 Mitglieder bilden zusammen keine Vereinigten Staaten, und die 450 Millionen EU-Bürger sind kein Volk. Diese Union ist im Grunde eine Plattform, die Politik koordiniert und moderiert – aber in gewissen Momenten durchaus in der Lage ist, strategische Initiativen zu ergreifen.

Das war so zu Beginn des Ukraine-Kriegs im Frühjahr 2022. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, klarsichtiger als viele, brachte die zögernden Staats- und Regierungschefs in Zugzwang: Die Peace Facility wurde im Nu zu einer Agentur für die Finanzierung von Waffenhilfe an Kiew umfunktioniert, ein Sanktionspaket nach dem anderen wurde verabschiedet und die Ukraine – vier Monate nach dem russischen Überfall – zum Beitritt in die EU eingeladen. Das ging selbstverständlich nicht ohne den Konsens der Mitglieder. Aber es war die Kommission, die in Vorleistung ging.

Statt zwei Grosse, viele Kleine

Ein solcher Moment der europäischen Selbstbesinnung täte auch jetzt wieder not. Von den grossen zwei, von Deutschland und Frankreich, sind keine Initiativen zu erwarten. Die Ampelkoalition zerlegt sich fast schon systematisch, und in Paris präsidiert Macron ein Land ohne Regierung – abgesehen davon, dass dessen Ukraine-Hilfen stets weit unter Frankreichs Möglichkeiten lagen. Ursula von der Leyen aber hat ein frisches Mandat erhalten. Und für ihre Ukraine-Politik hat sie durchaus Verbündete.

Da sind einmal die Polen, die Skandinavier, die Finnen und die Balten – dann aber auch die Briten, die sich sicherheitspolitisch der EU wieder annähern. Eine solche Koalition von Willigen – warum sollte die Schweiz nicht auch dazugehören? – könnte eine langfristige Strategie zur Unterstützung der Ukraine entwickeln. Es ist wichtig, jetzt ein klares Signal zu setzen. Dass später auch Paris, Berlin und Washington wieder voll mit dabei sind, ist ja durchaus möglich. Aber abwarten ist riskant. In zehn Tagen, sagt der Kalender, erwacht Brüssel aus dem Sommerschlaf.

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