Donnerstag, Juli 3

Das Bündner Kunstmuseum Chur hebt seine verspielten wie schlichten Bronze-Möbel auf den Sockel der Kunst. Diese Würdigung war längst fällig.

Er bezeichnete sich selbst schlicht als Handwerker. Sohn zu sein eines berühmten Malers, nämlich von Giovanni Giacometti, und Bruder zu sein eines noch berühmteren Bildhauers, gemeint ist Alberto Giacometti, schien ihm vollends genug. Seine Künstlergene aber wussten es besser: Auch in Diego Giacometti schlummerte das Genie. Und es fand schliesslich zu seinem Ausdruck.

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Ein Möbel von Diego Giacometti erkennt man auf Anhieb. Seine Stühle, Tische, Regale, Lampen, aus Bronze gefertigt, sind von eleganter Schlichtheit und proportionaler Ausgewogenheit. Und immer versehen mit dem gewissen Touch des Handgemachten, des Modellierten und Gekneteten – des Haptischen eben.

Zudem werden diese Möbel oft begleitet von einer botanischen Melodie: Blätter, Äste, Bäume. Oder auch belebt mit dem Orchester eines regelrechten Bestiariums: Diego Giacomettis Tierliebe reflektiert sich in wunderbar modellierten Eulen, Käuzen, Mäusen, Hirschen, Füchsen, Hunden und Katzen, die in seine Möbelkreationen integriert sind. Bücher las der virtuose Künstler-Designer kaum. Tierbücher aber waren es, die ihn inspirierten.

Das Modell

Als Kind schlummerte seine Begabung noch tief im Verborgenen. Im Gegensatz zum älteren Bruder Alberto, dem Erstgeborenen der berühmten Künstlerfamilie Giacometti in Stampa im Bergell. Dieser fertigte schon früh eine Büste von Diego an, die sein Talent bewies. Der «Kopf von Diego» von 1914/15, aus Plastilin herstellt, war Alberto Giacomettis erste Skulptur überhaupt. Diego, das Modell seines grossen Bruders: Er sollte diesem im Verlauf von dessen Künstlerkarriere noch unendliche Stunden lang Modell sitzen – geduldig, reglos, wie es der Meister verlangte.

Dabei war Alberto auf Diego geradezu angewiesen. Dieser wurde in Paris zu dessen unersetzlichem Assistenten. Er bereitete vor, woraus Alberto seine Figuren modellierte. Er baute die Eisendraht-Armierungen für die fragilen Göttinnen, die sein Bruder aus Ton knetete. Er goss diese in Gips ab, damit sie in Bronze verewigt werden konnten. Und bald galt er auch als bester Patinierer von Bronze in ganz Paris.

Dabei wollte Diego Giacometti erst gar nichts mit Kunst zu tun haben. Er absolvierte eine Handelsschule, versuchte sich in verschiedenen Gelegenheitsjobs. Als Handelsvertreter führte er ein von existenzieller Unruhe getriebenes Dandy-Leben zwischen Basel, Chiasso, Marseille und Paris, dies mit mässigem Erfolg.

«Wenn du bereit wärst, nach Paris zu kommen, würde ich mich sehr freuen. Ich habe so viel zu tun, dass du mit mir und natürlich auch für dich arbeiten könntest», schrieb Alberto im Herbst 1929 dem nach seinen gescheiterten beruflichen Abenteuern wieder zu Hause in Stampa im Bergell angekommenen Diego. Dieser folgte dem Ruf, arbeitete von nun an für den Bruder und daneben auch für sich selber, im Schatten von Alberto, und ohne dass die Welt davon gross Notiz nahm.

Auf den Sockel gehoben

Erst 1985 zur Eröffnung des Musée Picasso in Paris, drei Monate nach seinem Tod, hätte Diego seinen ersten musealen Auftritt mit der eigenen Kunst gehabt. 1983 bekam er den prestigeträchtigen Auftrag, das geplante Picasso-Museum dekorativ auszugestalten. Das war die Krönung seiner Karriere, er war damals beinahe achtzig Jahre alt. Diego fertigte Leuchten, Bänke, Stühle und niedrige Tische an, die nicht nur mit den monumentalen Räumen des alten Gebäudes im Marais harmonieren, sondern auch in einen Dialog mit den Werken Picassos zu treten vermögen.

Jetzt hat Diego Giacometti wieder einen musealen Auftritt. Und zwar nicht als Dekorateur. Erstmals anerkennt ihn ein Museum als eigenständigen Künstler. Das Bündner Kunstmuseum Chur widmet ihm eine umfassende Sonderschau. Es hebt Diego Giacomettis Werke auf den Sockel der Kunst. Sie werden als Skulpturen und damit den Gemälden und Plastiken von Giovanni Giacometti und Alberto Giacometti ebenbürtig präsentiert.

So steht hier nun eine lederbezogene Bank mit vier massiven Bronzefüssen, die sonst im Kunsthaus Zürich den Besuchern als Sitzgelegenheit dient, erhaben auf einem himmelblauen Podest über dem Boden des Ausstellungsraums. Sämtliche grösseren Kreationen in dieser umfassenden Schau werden auf solchen Sockeln gezeigt.

Gemäss dem allgemeingültigen Konsens der Gattungsbegriffe gehörten seine Werke bis anhin nicht in ein Kunstmuseum: Bildende Kunst war vom Kunsthandwerk strikte getrennt. Bis anhin wurde Diego Giacometti lediglich im Rahmen der angewandten Kunst gewürdigt: Kurz nach seinem Tod 1986 widmete ihm das Musée des Arts décoratifs in Paris, wo sich heute auch sein gesamter Nachlass befindet, eine Schau. In der Schweiz wurden seine Möbel 1988 im Zürcher Kunstgewerbemuseum Bellerive gezeigt.

Das Kunstmuseum Chur ist das einzige Museum für bildende Kunst in der Schweiz, das seit kürzerem auch ein paar Werke von Diego Giacometti in seiner eigenen Sammlung beherbergt. 2016 kamen durch Schenkung ein Tisch, ein Stuhl, Kaminböcke und ein beeindruckender Kerzenständer ans Haus, den Diego Giacometti seinem Bruder Alberto zu dessen fünfzigstem Geburtstag gefertigt hatte. Er verfügt über fünf Kerzenhalter, einen für jede Dekade, und ist geziert von zwei Pferdeköpfen, die für die Loyalität des Brüderpaars stehen könnten. Alberto und Diego verband eine grosse Zuneigung. Ihre brüderlichen Bande festigten sich im Lauf der Jahre, als sie in Paris Tür an Tür lebten und arbeiteten.

Diegos Bescheidenheit

Diego Giacometti wurde lange unter seinem Wert wahrgenommen. Das aber ist vom Künstler mitverschuldet. Beim Signieren seiner eigenen Werke verzichtete er stets auf den Familiennamen, um nicht in Konkurrenz zu Alberto Giacometti zu treten.

Diego Giacometti war verschlossen, wortkarg und lebte zurückgezogen. Nach öffentlicher Anerkennung oder Ruhm strebte er nicht. Über zwanzig Jahre lang lebte er mit Nelly Constantin zusammen, einer Frau, von der sozusagen nichts bekannt ist, nicht einmal ein Foto existiert von ihr. Sie war 19, als sich Diego in sie verliebte, war bereits geschieden und hatte einen kleinen Sohn, den Diego wie seinen eigenen aufzog. Seine Mutter Annetta Giacometti sollte diese Liaison nie gutheissen. Diego und Nelly heirateten nicht, auch wurde seine Lebensgefährtin nie der Mutter zu Hause im Bergell vorgestellt.

Das alles passt zu Diego Giacomettis bescheidenem Wesen. Dabei war er in Paris von Anfang an erfolgreich. Zusammen mit Alberto fertigte er schon in den dreissiger Jahren im Auftrag von Jean-Michel Frank, einem bekannten Möbeldesigner und Inneneinrichter, luxuriöse Objekte an, die besondere Anerkennung fanden.

Für eine illustre Klientel, zu der der Modeschöpfer Hubert de Givenchy oder die Kunsthändlerfamilie Maeght gehörten, schuf er umfassende Einrichtungen mit Treppengeländern, Bibliotheken und Beleuchtungskörpern, die eigentliche Gesamtkunstwerke darstellen. In der Fondation Maeght in Saint-Paul-de-Vence zum Beispiel bildet die Einrichtung des Cafés neben ortsspezifischen Werken von Joan Miró und Georges Braque einen integralen Bestandteil dieses bedeutenden Kunstorts.

Diego Giacomettis Objekte befinden sich heute in namhaften Privatsammlungen und erzielen auf dem Kunstmarkt Höchstpreise. Der kürzlich verstorbene Doyen des Schweizer Kunsthandels, Eberhard W. Kornfeld, konnte für ein Diner mit zwölf Personen jeden Gast auf einem Stuhl von Diego platzieren. Er kannte Albertos stillen Assistenten persönlich und hatte die Stühle dort selber bestellt. Sie sind nun in Chur um einen runden Tisch gruppiert, der mit Vögeln, Fröschen und Blättern verziert ist.

Diego schuf auch die Ausstattung für die «Kronenhalle»-Bar in Zürich. Der Auftrag kam von Gustav Zumsteg, dem Seidenhändler und Sohn der Patronne des Restaurants Kronenhalle. Dieser hatte die Vision einer Bar, die er 1965 mit dem Zürcher Innenarchitekten Robert Haussmann realisierte. Diego kreierte die Lampen auf dem Tresen und die Hängeleuchten, die Tischfüsse und den Griff der Eingangstür.

Lange war man der Ansicht, Diego Giacometti sei rund vierzig Jahre für Alberto tätig gewesen; erst nach dessen Tod 1966 und die letzten zwanzig Jahre seines Lebens sei er in eigener Regie aktiv gewesen. Das kann die Ausstellung in Chur mit zahlreichen Werken aus den dreissiger, vierziger und fünfziger Jahren widerlegen. Ein markantes Beispiel in der Schau ist eine formvollendete, bronzene Löwin aus dem Jahr 1931, da war Diego 29 Jahre alt.

Ein einziges Mal wahrscheinlich rang der bescheidene Künstler wohl ziemlich verzweifelt um Aufmerksamkeit – vielleicht um jene der Mutter, die ihren Ältesten, Alberto, vergötterte. 1907, mit fünf Jahren, verletzte sich Diego an der rechten Hand durch das Getriebe einer laufenden Heuhäckselmaschine schwer. Drei Finger mussten operiert werden, wobei der Mittelfinger etwa in der Mitte abgetrennt werden musste. Diego suchte diese Behinderung stets zu verbergen. Die Erinnerung an den Unfall inspirierte hingegen Alberto in seiner surrealistischen Phase für die Skulptur «Gefährdete Hand» von 1932. Sie zeigt eine in einem Käfig eingesperrte Hand, die an eine mit einer Kurbel betriebene Vorrichtung gebunden ist.

Erst viele Jahre nach dem Unfall gestand Diego, dass es kein Unfall war. Er habe seine Hand absichtlich in das Getriebe gesteckt. Der an der Hand Versehrte hielt schliesslich als geschickter Handwerker über Jahrzehnte das Kunst-Getriebe seines erfolgreichen Bruders am Laufen. Was er als Künstler mit seinen Händen Aussergewöhnliches zustande brachte, führt jetzt die Ausstellung in Chur beeindruckend vor Augen.

«Diego Giacometti», Bündner Kunstmuseum Chur, bis 9. November.

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