Gottfried Gloor / Baugeschichtliches Archiv Zürich
Das «Haus der 1000 Gaben» an der Zürcher Bahnhofstrasse zog Prominente an und verströmte Glamour. Ein letzter Besuch.
Freitagmorgen, 9 Uhr 58, ein Mitarbeiter öffnet zum letzten Mal die Glastüren zum Einkaufspalast Jelmoli. Dutzende Schau- und Kauflustige drängen sich an ihm vorbei, in der Hoffnung ein Schnäppchen zu machen oder doch zumindest ein Erinnerungsstück zu ergattern. In wenigen Stunden ist das älteste Warenhaus der Schweiz Geschichte.
Einige Kunden sind gut vorbereitet mit blauen Ikea-Taschen an den Schultern und Rollkoffern in der Hand. Andere weniger: Zwei Frauen bleiben vor einem Beistelltischchen aus Stein stehen. «Ein bisschen schwer zum heimtragen», sagt die eine zur anderen und fährt mit der Hand über die Tischplatte, von der eine Ecke abgebrochen ist.
An diesem letzten Tag im Februar 2025 ist nicht mehr viel übrig von Jelmoli. Fünf Kleiderpuppen. Ein Sofa. Ein Dutzend Kleiderständer. An einem Regal klebt ein Zettel: «Dekoschnee 5 Franken pro Sack», steht darauf. Das Regal ist leer.
Eine Frau in pinkfarbener Jacke kauft einen pinkfarbenen Strickpullover. Und eine Frau in rostbrauner Jacke, einen rostbraunen Spitzen-BH. Wieder zwei Stücke weniger.
Noch zu haben sind:
- Buchsbaum, echt, 449 Franken anstatt 650.
- Teppich, altrosa, 400 Franken.
- Weihnachtskugel, in Gold, 0.50 Franken.
- Tannenbaum in Kartonschachtel, 25 Franken.
- Snowboard, mit deutlichen Gebrauchsspuren, 80 Franken.
Im Untergeschoss in der Food-Abteilung summen leere Kühltruhen. Es riecht nach frischen Brot. An der Käsetheke stehen sich die Kunden im Weg – Bäretswiler Bergraclette und Schnebel Geiss zum halben Preis. Ein Schild weist darauf hin: Ab dem 3. Januar 2024 kann nur noch mit Karte oder per Twint gezahlt werden.
Die Organgensaftpresse ist bereits verkauft. Etliche Regale offenbar auch. Sie gehören Tim, Claudio und einer Frau Bossi. So steht es da.
Eine Frau möchte sich an der Fischtheke bis 19 Uhr einen Wolfsbarsch reservieren. Der Verkäufer winkt ab. First come, first served.
Draussen an der Fassade zeigt die Uhr zwei nach zwölf, obwohl es noch lange nicht Mittag ist. Die Zeit von Jelmoli ist abgelaufen. Am Freitag endet eine mehr als 190 Jahre dauernde Geschichte. Es geht um weit mehr als um Konsum. Die Geschichte von Jelmoli erzählt auch von Pioniergeist, Emanzipation und Antisemitismus.
Sieben bemerkenswerte Ereignisse aus dem Jelmoli-Archiv.
Die nachts hell erleuchteten Jelmoli-Schaufenster ähneln Guckkästen, in denen der Zeitgeist die Hauptrolle spielt. Sie sorgen in der Schweiz und darüber hinaus für Anerkennung.
Sie sollen die Kunden neugierig machen, den Verkauf ankurbeln. Und doch geht es um mehr als das: «Der Betrachter sucht hier nicht bloss ein Warenangebot, sondern den Ausdruck einer modernen Lebensform. Darum dürfen Schaufenster avantgardistisch sein», heisst es im Jubiläumsbuch von 1959 aus dem Jelmoli-Archiv. Und weiter: «Das Schaufenster soll dem Betrachter zuflüstern: ‹Sag Ja zum Leben›.» Es brauche dazu auch noch Geld; dieses müsse der Kunde selber mitbringen.
Seit den 1920er Jahren werden sie künstlerisch gestaltet. Ganz Zürich zieht es ins Stadtzentrum, um die Weihnachtsdekoration zu begutachten. In den 1950er Jahren gibt es 50 Schaufenster, deren Ware alle drei Wochen ausgewechselt wird. 40 Angestellte, vom Schreiner bis zum Plakatmaler, ändern das Dekor.
Die Dekorateure sind thematisch offen, auch für Literatur und Film. Anlässlich des 50. Geburtstags von Hermann Hesse 1927 gestaltet der Chefdekorateur ein Fenster mit Originalhandschriften. Gross kommt derweil ein Füllfederhalter heraus: Dem «Wonder Pen» für 1 Franken 75 lieh Jackie Coogan seinen Namen. Der Bub trat neben Charlie Chaplin im Stummfilm «The Kid» von 1921 auf. Das Schaufenster ist eine Zürcher Hommage an den ersten Kinderstar der Filmgeschichte.
Was in den Schaufenstern ausgestellt ist, regt zu Diskussionen an. Oder es wird gar als anstössig empfunden. Das zeigt ein an die Direktion gerichteter Brief von 1959 aus dem Jelmoli-Archiv. Eine Frau aus Adliswil schreibt: «Gestern habe ich Ihre Schaufenster für die Badesaison gesehen. Gestatten Sie mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass nicht nur ich, sondern ebenso viele andere anständige Leute Ihre Reklame nicht nur als unanständig sondern als ekelhaft empfinden. Ihre Dekorateure haben einen grossen Mangel an Phantasie, dass sie zu den primitiven Mitteln greifen müssen, um ein ‹anziehendes› Schaufenster zustande zu bringen.»
Die Beschwerdeführerin fragt, ob sich die Jelmoli-Leitung bewusst sei, dass sie die Verantwortung trage für den «schlechten Einfluss, der ein solches Schaufenster auf Tausende von Menschen» habe. Das Ehrgefühl insbesondere der Frauen werde in Mitleidenschaft gezogen.
Die Direktion antwortet gelassen: Bei den Figuren in den beanstandeten Fenstern handle es sich um Karikaturen der menschlichen Gestalt. Diese seien weit von der Wirklichkeit entfernt. Daher verstehe man nicht, wie das als moralisch anstössig empfunden werden könne. Man sei aber stets froh über Rückmeldungen, um dem Publikumsgeschmack entsprechen zu können.
Giovanni Pietro Guglielmoli handelt auf dem Zürcher Markt mit Seidenstoffen aus Paris. Er macht sich bald einen Namen. Geboren wurde er 1794 im Dorf Toceno im Piemont. 1833 lässt er sich in Zürich nieder und nennt sich fortan Johann Peter Jelmoli.
Er eröffnet ein «Handelshaus für Modeware» an der Schipfe und führt als erster in Zürich das System der «festen Preise» ein. Die Kundschaft muss nicht mehr feilschen und kann schriftlich bestellen – der Beginn des Versandgeschäfts. Der Gründer stirbt 1860.
Sein Sohn Franz Anton Jelmoli, nun ein Zürcher Bürger, erwirbt die Seidenhöfe an der Sihlstrasse. Hier lässt er den vielbewunderten Glaspalast errichten. 1899 eröffnet er mit den Grands Magasins Jelmoli eines der ersten Warenhäuser der Schweiz.
1919 verlässt Franz Anton Jelmoli die Direktion. Er verkauft seine Aktien jüdischen Einwandererfamilien: An die im Baumwollgrosshandel tätigen W. Wolf & Söhne und an Sigmund Jacob.
Bis in die 1950er Jahre fragen Kundinnen und Kunden an den Verkaufstischen, ob sie Herrn Jelmoli sprechen können. Die Antwort lautet dann: Im Hause Jelmoli ist kein Herr dieses Namens mehr tätig.
Und doch lebt der Name weiter. Die Jelmoli-Lettern sind denkmalgeschützt. Sie werden noch lange an die Geschichte des Einwanderers namens Giovanni Pietro Guglielmoli erinnern.
Für viele Zürcherinnen wird der Jelmoli rasch nach der Eröffnung zum Paradies. Das haben sie Franz Anton Jelmoli zu verdanken. Er hielt sich als junger Mann längere Zeit in Paris und den Kaufhäusern Grands Magasins du Louvre und Le bon Marché auf.
Dutzende von jungen Verkäuferinnen erhalten in der Kathedrale des Konsums eine Anstellung und die Möglichkeit für finanzielle Unabhängigkeit. Kundinnen gehen hier ihren Wünschen nach. In diesem halböffentlichen Raum wird es für Frauen möglich, sich eigenständig zu bewegen.
Mütter geben ihren Nachwuchs im Kinderparadies ab. Im «Erfrischungsraum» trinken sie dann Tee, führen Telefongespräche, lauschen dem hauseigenen Orchester oder verfolgen Modeschauen, bei denen Frauen auch Velo fahren. Alles tun sie, ohne ihren Ruf aufs Spiel zu setzen. Das Warenhaus bereitet der Emanzipation den Weg.
Der jüdische Generaldirektor Sigmund Jacob setzt Innovationen um, etwa die künstlerische Schaufenstergestaltung. Und der eröffnet 1932 und 1938 spektakuläre Erweiterungsbauten.
In dieser Zeit nimmt der Antisemitismus zu, auch in der Schweiz. Das Konkurrenz-Warenhaus Globus lässt in der NZZ ein Inserat drucken, auf dem hervorgehoben wird, dass sich in der Leitung alles Schweizer befänden, wie im Jelmoli-Dokumentarfilm von Sabine Gisiger gezeigt wird. Antisemitische Politiker opponieren gegen die meist jüdisch geführten Warenhäuser. 1933 erlässt der Bundesrat ein Verbot des Baus und der Erweiterung von Kaufhöfen. Für Jacob ist das kein Hindernis: Zu dem Zeitpunkt hat er die Bewilligung für die geplante Erweiterung schon.
Dann beginnt der Zweite Weltkrieg. Jacobs Situation wird schwieriger. Ein im Jelmoli-Archiv erhaltener Brief an den Verleger Paul Ringier, der den Jelmoli-Katalog druckt, verdeutlicht dies: «Sie wissen, wie schwer meine Familie durch die politischen Umwälzungen in Europa betroffen wurde. Ich habe in Holland neben meinen beiden verheirateten Kindern noch siebzehn nahestehende Verwandte, deren Zukunft ungewiss und vermutlich auch unerfreulich ist. Für mich ergibt sich eine Situation, die es mir zur Pflicht erscheinen lässt, unser Land vorläufig zu verlassen und in den Vereinigten Staaten eine abwartende Haltung einzunehmen.»
Jacob entscheidet sich, nach Amerika auszuwandern. Er verkauft seine Aktien an Paul Ringier und an den Banker Fritz Richner, der bald Verwaltungsratspräsident von Jelmoli wird und als Direktor auf Sigmund Jacob folgt. Letzterer legt sein Mandat im Dezember 1940 nieder.
Jacob hofft, in Amerika eine Stütze für seine Angehörigen zu sein, falls sich die Verhältnisse verschlimmern. Seine Befürchtungen bewahrheiten sich. Die Nazis verhaften in den besetzten Niederlanden seine ältere Tochter, ihren Mann und den Mann seiner jüngeren Tochter. Jacob gelingt es, die drei freizukaufen gegen ein Lösegeld von 200 000 Schweizerfranken. Für seine anderen Verwandten kann er nichts tun. Sie werden nach Auschwitz deportiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg boomt die Wirtschaft. Nun setzt das Warenhaus auf technische Errungenschaften.
Ein besonderes Ereignis geht im November 1949 über die Bühne. Die NZZ titelt in ihrer Mittagsausgabe: «Das Warenhaus als Flugplatz». Erstmals landet ein Helikopter auf einem Schweizer Warenhaus – auf dem Jelmoli-Dach.
Am Nachmittag erscheint der amerikanische Helikopter am grauen Himmel. In den USA erfülle dieser einen breiten Aufgabenkreis: Warenlieferung auf entlegene Farmen, Postverkehr, Waldbrandbekämpfung oder Rettung von Schiffbrüchigen.
Schliesslich landet der Helikopter auf dem Dach – laut NZZ «sehr exakt». Wenige Meter entfernt warten Gäste, Vertreter der Behörden, des Luftamtes und der «Presse». Bilder zeigen Hunderte von Schaulustigen auf der Sihl- und der Bahnhofstrasse. Nach der Landung gibt es Blumen für die Piloten und Zigaretten für die Frauen.
Persianer-Klauen-Mantel, Silberfuchspfoten-Mantel, Opossum-Mantel, grönländische Lamm-Jacke, Blaufuchs-Cape, Ozelot-Muff: Das ist in den 1950ern en vogue. Viele Frauen tragen im Winter Pelz. Im Sommer sind die Mäntel in den Kleiderschränken «mannigfachen Gefahren ausgesetzt», wie es in einer Jelmoli-Werbung heisst. Es drohen Motten und Feuchtigkeitsschäden. Das Kaufhaus bietet eine Lösung, so dass die Besitzerinnen ihre Mäntel im Herbst per Post und «verjüngt» wieder entgegennehmen können.
Die Lösung lautet: Pelzkühlhaus. Aus heutiger Sicht gehört es zu den Skurrilitäten, dass der Jelmoli ab 1944 während vierzig Jahren ein solches betreibt. Die Leitung verhandelt dazu mit einem Kürschner aus Oerlikon. Er preist seine Leistung in einem Geschäftsbrief an: «Mit Recht und voll Freuden kann die Dame sagen: ‹Mein Mantel ist in einem Pelz-Kühlhaus übersommert worden.›»
Schon früh veranstaltet Jelmoli Anlässe für die Bevölkerung. Dazu gehörten Signierstunden mit Prominenten. Sie sorgen für Glamour.
Die Filmschauspielerin Sophia Loren besucht das Warenhaus im April 1979. Sie signiert die Neuerscheinung «Sophia – Leben und Lieben».
Die 44-Jährige gibt dem NZZ-Lokalredaktor Peter Suter ein Interview. Er schreibt über die Begegnung: «Eine lange Schlange von Wartenden bildete sich vor dem Buchverkaufsstand, eine Schlange, wie man sie vor den Toren von Fussballstadien sehen kann, vor dem langen Tisch, an dem Sophia Loren sitzt, lächelt, plaudert und signiert. Der Verkehr wird von der Betriebsfeuerwehr geregelt. Sicher ist sicher. Es könnten da unzählige Männer in geschlossener Formation Feuer fangen.»
Ernster geht es ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu und her. Da ist General Henri Guisan zu Gast, mit Brille und in Uniform. Heiter wird es, als Erich Kästner ins Zürcher Warenhaus kommt. Der bekannte deutsche Schriftsteller und Gebrauchslyriker signiert Romane wie «Emil und die Detektive» oder «Fabian».
Auch der amerikanische Jazz-Pianist Count Basie, der deutsche Sänger Heino mit Sonnenbrille, der israelische Satiriker Ephraim Kishon und der Luzerner Komiker Emil Steinberger beglücken das Publikum. 1977 tritt der Rocksänger Toni Vescoli mit Gitarre vor einem jugendlichen Publikum auf.
Sogar Globi, das Maskottchen der Konkurrenz, gibt seinen Einstand vor den Kindern.
Zwischen Damen-Pyjama und Wühltisch steht an diesem Freitag, 28. Februar 2025, ein Mann in schwarzem Hemd und schwarzem Anzug. Trauerkleidung. Es ist Reto Braegger, der CEO dessen, was an diesem letzten Tag noch von Jelmoli übrig ist.
Er wurde vor zwei Jahren eingesetzt, um das Warenhaus zu schliessen. Nun, am letzten Tag, sagt er: «Ich freue mich: Das ist alles, was von drei Etagen Modeabteilung noch übrig ist.» Braegger lächelt und zeigt auf ein Dutzend halbleere Kleiderstangen im Erdgeschoss. Es erfülle ihn mit Stolz, wie sich die Mitarbeiter auch in den letzten Wochen trotz der anstehenden Schliessung engagiert hätten. Und dann ergänzt er: «Aber ich bin auch froh, wenn es jetzt dann vorbei ist.» Braegger ist Kopf eines stark reduzierten Teams, dass in den kommenden Wochen und Monaten noch die Relikte veräussern wird.
Im Schaufenster läuft derweil ein Countdown. 00 Tage. 8 Stunden. 45 Minuten. 26 Sekunden. Dann werden die Türen zu Jelmoli geschlossen. Und im Untergeschoss feiern die wenigen noch übrigen Mitarbeiter das Ende des ersten Warenhauses der Schweiz.