Sonntag, Oktober 6

Der Leitsatz gilt seit Jahren: Das englische Fussball-Nationalteam ist nicht so gross und nicht so gut wie die Premier League. Weshalb die Differenz? Antworten von einstigen Schweizer Nationalspielern.

Engländer im Schweizer Fussball? Weitgehend Fehlanzeige. Man muss sie mit der Lupe suchen. Andersherum ist mehr Verkehr, weil die Premier League seit je grosse Anziehungskraft auf Schweizer Fussballer ausübt.

Vor dem EM-Viertelfinal haben wir mit fünf Protagonisten gesprochen, die für die Schweizer Auswahl gespielt haben und dazu die englischen Ligen aus dem Innern kennen: die Premier League und die Championship eine Stufe darunter.

Der frühere YB-Spieler Christian Fassnacht meldet aus Norwich und der Championship, wie sehr der englische Fussball auf sich selbst bezogen sei. Der frühere Nationalgoalie Pascal Zuberbühler ärgert sich darüber, wie England seine Goalies «kaputtmacht». Die einstigen Arsenal-Verteidiger Philippe Senderos und Johan Djourou äussern sich zur derzeitigen (Tempo-)Kluft zwischen der Premier League und der nationalen Auswahl. Und der Trainer Bruno Berner spricht über das EM-Spiel Schweiz – England 2004, das die Spuckaffäre zur Folge hatte.


Bruno Berner, 46: «Niemand fand Alex Freis Aktion gut, keine Frage. Aber wir bauten einen Schutzwall»

ram.

2004 qualifizierten wir uns unter dem Trainer Köbi Kuhn acht Jahre nach der letzten Turnierteilnahme für die EM in Portugal. Wir waren damals nicht so weit wie die Nationalmannschaft heute, die EM-Teilnahme war für uns eine grosse Sache. Mit Frankreich und England hatten wir Brocken in der Gruppe, wir waren krasse Aussenseiter.

Bei England spielten damals David Beckham, der junge Wayne Rooney, Paul Scholes, die Neville-Brüder, Frank Lampard, Steven Gerrard, John Terry. . . Viel Qualität, man sprach von einer goldenen Generation.

Als wir durch den Kabinengang auf das Feld gingen, war grosser Respekt da vor all den Stars, Nervosität auch. Ich versuchte, so gut es ging, Beckham zu ignorieren, meine Frau hatte mir immer vorgeschwärmt, wie hübsch er sei. Ich war Ersatzspieler. Als Bernt Haas des Feldes verwiesen wurde, dachte ich, das sei meine Chance. Aber Kuhn schob Stéphane Henchoz rechts hinaus. Damit musste ich umgehen. Wir verloren 0:3.

Die berühmte Situation, als Alex Frei den Engländer Steven Gerrard anspuckte, habe ich nicht mitbekommen. Im Team war das nur ein Thema, weil wir Alex unbedingt für das dritte Spiel gegen Frankreich brauchten. Niemand fand die Aktion gut, keine Frage. Aber es gab sofort diese Wagenburg-Mentalität, wir bauten einen Schutzwall, nur die dritte Partie zählte. Diese verloren wir ohne den gesperrten Frei 1:3.

Ich spielte damals in der Bundesliga im SC Freiburg und war ein grosser Bewunderer des englischen Fussballs. Später durfte ich in England spielen, 2007 bis 2012 in den drei obersten Ligen. Blackburn Rovers und Leicester City waren meine Klubs, das EM-Spiel gegen England damals hatte meinen Wunsch verstärkt. Wenn so viele im Stadion «God Save The Queen» singen ­– das ist schon Gänsehaut pur. Unvergesslich.

Es ist kein Zufall, dass die Engländer auch heute wieder starke Individualisten haben – aber waren die Engländer ein Team? Damals spielte etwa der zentrale Mittelfeldspieler Paul Scholes auf der linken Seite, Englands Trainer Sven-Göran Eriksson versuchte einen Weg zu finden, alle Stars spielen zu lassen. Das hat ihnen nicht geholfen, im Achtelfinal war Schluss.


Pascal Zuberbühler, 53: «Ich finde bemerkenswert, wie die Engländer ihre Goalies kaputtmachen»

bir.

Ich bin ein England-Fan und war immer beeindruckt, wie die Leute miteinander umgehen. Ihr Charme, ihr Humor, ihr gegenseitiger Respekt. Ich spielte mit West Bromwich Albion ein halbes Jahr Championship, also zweithöchste Liga. Dazu erlebte ich mit dem Trainer Roy Hodgson und mit Fulham als 37-Jähriger die Premier League als Ersatzgoalie hinter dem Australier Mark Schwarzer. Danach wurde ich Goalie-Trainer bei Derby County.

Der englische Fussball ist eine ziemliche Nummer. Ich sage jedem, der in eine englische Liga kann: Mach’s! Auch wenn’s Championship ist. Das musst du erlebt haben.

Mit dem Nationalteam liegen ein paar Dinge anders. Aus der Perspektive des Torhüters finde ich bemerkenswert, wie die Engländer ihre Goalies kaputtmachen. Das begann vor vielen Jahren mit David Seaman und ging mit David James und Joe Hart weiter. Ich war in englischen Pubs, da war vor den Bildschirmen tolle Stimmung, aber einige machten sich über jeden Rückpass zum Goalie lustig. Mit Jordan Pickford hat sich die Goalie-Debatte etwas beruhigt. Sie ist aber ein Beispiel dafür, wie die Auswahl auf der Insel behandelt wird.

Vor dem Turnier 2024 dachte ich, dass England ein Titelfavorit sei. Aber ich erschrak: Die Engländer spielen verknorzt, als sei die EM ein Zwang. Was ist da los? Vielleicht ist Gareth Southgate zu lang Nationaltrainer. Du hast wunderbare und teure Puzzle-Teile, aber das passt nicht zusammen.

Die Schweizer spielen hingegen sehr gut, variantenreich. Ich war immer ein Anhänger davon, dass die gleichen elf zum Einsatz kommen. Wenn immer möglich. Murat Yakin wechselt dagegen viel. Nicht aber hinten. Da stehen die Schweizer kompakt. Der Goalie Yann Sommer hatte in den vier EM-Spielen nicht einen Big Save, mit dem er das Team im Spiel halten musste. Nicht einen. Das will etwas heissen. Aber Sommer wird es gegen England brauchen. Ich erwarte trotz allem einen engen Viertelfinal. 1:0 für die Schweiz.


Johan Djourou, 37: «Ich befürchte, dass das Spiel gegen die Slowakei die Engländer aufgeweckt hat»

eva.

Die Frustration über die Leistungen an der EM kommt daher, dass man in England schon seit langem auf einen Titel wartet. Es gibt so viele Weltklassespieler im Team, dass es für mich auf dem Papier die stärkste Equipe des Turniers ist. Aber die Spieler sind kein Team, sie haben es noch nicht geschafft, ihr Können zu entfalten, wie es ein Klubteam wie Manchester City oder Arsenal tut. Deshalb ist ihr Spiel nicht schön anzuschauen. Es fehlt das Flüssige, der Wow-Effekt.

Ich glaube aber nicht, dass die Frustration der Anhänger und Medien, also der Druck von aussen, die Mannschaft hemmt. Vielmehr ist den Spielern selber bewusst, wie stark das Team und wie gross die Titelchance ist. Alle kennen die teilweise harsche Kritik. Die englische Medienlandschaft ist kompliziert. Für mich fehlt dort die Balance. Bei schlechten Leistungen können harte Schlagzeilen Hass und Frustration schüren, aber diese Ausgaben der Zeitungen verkaufen sich gut. Nach starken Performances ist dafür alles grossartig. Aber es gibt eine solche Fülle an Publikationen, man muss ja nicht den «Mirror» lesen.

Und denselben Druck habe ich in anderen Ländern erlebt, alles hängt davon ab, bei welchem Klub du spielst; bei Arsenal, wo ich von 2004 bis 2013 war, oder in Deutschland beim Hamburger SV zum Beispiel habe ich die Erwartungen als ähnlich gross empfunden.

Der Fussball ist in England Religion. Er lebt in der Seele der Engländer, die Liebe wird von Generation zu Generation weitergegeben. Das spürst du im Land überall, ob der neue Spielkalender veröffentlicht wird oder in der Woche vor dem Nord-London-Derby Arsenal – Tottenham: Die Menschen reden konstant über Fussball, in der Bar, im Pub, beim Einkaufen.

Das Spiel am Samstag wird interessant. Die Engländer wissen, dass sie gegen die Slowakei sehr glücklich davongekommen sind. Ich befürchte, dass sie das aufgeweckt hat. Wenn es die Schweiz aber schafft, taktisch wieder schlau zu spielen, kann sie gewinnen.


Philippe Senderos, 39: «Vielleicht erwartet das Publikum zu sehr Premier-League-Niveau»

bir. Wenn ich das Tempo und den Rhythmus der Premier League mit dem vergleiche, was von England an der EM in Deutschland zu sehen ist, nehme ich eine erhebliche Differenz wahr. Vielleicht erwartet das Publikum zu sehr Premier-League-Niveau. Das heisst jene Intensität, die ich in über 130 Premier-League-Spielen vor allem mit Arsenal und Fulham erlebt habe.

England hat Spieler, aber kein Team.

Doch das muss nichts bedeuten. Bis jetzt ist England gleich weit gekommen wie die Schweiz. Allein das zählt. Es geht in einem solchen Turnier nicht um Spektakel, sondern um Resultate. Die Ausbildung in England ist über die Jahre besser geworden, Nachwuchsauswahlen haben in den letzten Jahren Turniere gewonnen. Das gab es vorher nicht. Vergessen wir das nicht.

Ich lasse Vorsicht walten und würde aus Schweizer Optik den Engländern die Favoritenrolle überlassen. Zumindest gegen aussen. Der Gegner ist England mit der Premier League, das grosse Fussballland, Bellingham, Foden, Saka, Kane, der EM-Finalist 2021. Für mich bleibt England deshalb im Favoritenkreis. Das Team kann sich entwickeln.

Das ist der Unterschied zu den Schweizern, die bereits zusammengeschweisst wirken. Zudem können sie den Endrunden-Match dominieren. Das war früher nicht so. Das hat mit Erfahrung und Selbstvertrauen zu tun. Der Torhüter Yann Sommer strahlt Sicherheit aus, der Verteidiger Manuel Akanji bietet höchstes Niveau, Granit Xhaka gehört zu den besten Fussballern, die wir je hatten. Und: Früher war in der Breite weniger vorhanden. Die Qual der Wahl ist ein schönes Trainer-Problem.

Eigentlich bedeutet Premier League Tempo. Doch nach den letzten Eindrücken sage ich: England kommt in Gefahr, wenn die Schweiz ein hohes Tempo anschlägt.


Christian Fassnacht, 30: «Die Engländer kennen ihre Fussballwelt, und alles andere interessiert sie nicht»

bir. In einem Jahr bei Norwich City in der Championship habe ich schnell realisiert: Hier gibt’s den englischen Fussball – und keinen anderen Fussball. Teilweise kennen die Leute hier nicht einmal die Bundesliga-Teams. Hier ist England, und nochmals England. YB und der FC Basel sind nur wegen der Champions League ein Begriff. Dahinter hört es schnell auf.

Das Schweizer Nationalteam ist ein Thema, wenn’s um Spieler geht, die Erfahrung in der Premier League haben – wie Akanji, Schär, Xhaka und Shaqiri. Ich meine das nicht despektierlich. Aber die Engländer kennen ihre Fussballwelt, und alles andere interessiert sie nicht.

Jetzt ist die Enttäuschung über das Nationalteam gross, aber man ist sich gleichzeitig bewusst, dass es plötzlich Klick machen könnte. Wir reden hier über eine Weltmannschaft. Man stellt das englische Aus in den Raum, aber wie ernst das gemeint ist, weiss ich nicht. England ist mit schwachen Leistungen am gleichen Ort wie wir mit starken Leistungen. Das Momentum ist dennoch auf unserer Seite. Die Schweiz spielt mit einer Vision, mit einem Plan.

Die englischen Medien können brutal sein. Gerade heute dachte ich im Training: Wie verhält man sich wohl, wenn so viel Kritik auf einen einprasselt – und man am Ende doch gewinnen sollte? In der Heimat sind die heftigsten Kritiker die, die im Erfolgsfall in die «Wir-Form» wechseln. Ich nehme eine Hassliebe wahr.

In England ist alles nochmals grösser, gerade im Vergleich zur Schweiz. Selbst in der Championship: die Spielqualität, die Stadien, das Publikum, das Drumherum, die Urteile. Nach einer schlechten Leistung bist du bald ein «piece of shit». «Den wollen wir nicht mehr», heisst es. Die Differenzierung fehlt. Aber das ist nicht nur in England so. Je grösser die Liga, desto mehr Intensität gibt es auch im Drumherum.

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