Freitag, Oktober 11

Auf der «Sihlhalde in Gattikon bei Thalwil wirtet seit einem halben Jahrhundert die gleiche Familie. Wie wohltuend können solche Horte der Beständigkeit sein!

Ist man dem Disco-Alter entwachsen, gehört eine ruhige Gesprächsatmosphäre zu den wichtigen Kriterien eines Restaurantbesuchs. Doch rar geworden sind die Orte, wo man sich nicht gleich heiser kräht. Zu ihnen zählt die «Sihlhalde» im Thalwiler Weiler Gattikon mit ihren gemütlichen Stuben – jedenfalls können wir das für jene beim Eingang bezeugen. Dort tafeln wir an diesem Abend zur Feier einer 86-jährigen Jubilarin, acht Gäste aus drei Generationen. Der einzige andere Tisch im Raum ist prominent besetzt, doch dazu später.

Das prächtige ehemalige Fachwerk-Bauernhaus, umgeben von Kuhweiden, gehört zur aussterbenden Gattung edler Landgasthöfe rund um den Zürichsee. Seit einem halben Jahrhundert wirtet hier die Familie Smolinsky; vor zwölf Jahren übergab Vater Hans-Jörg den Kochlöffel an den Sohn Gregor, der sein Handwerk beim Zürcher Spitzenkoch Robert Haupt in der «Wirtschaft Flühgass» erlernt hat.

Mancherorts lässt die junge Generation die Muskeln spielen, wenn sie ans Ruder kommt, und stellt alles auf den Kopf. Gregor Smolinsky aber knüpft direkt an die Arbeit seiner Eltern an mit seiner währschaft-schnörkellosen Küche auf hohem Niveau, baut den einen oder anderen Twist ein, ohne sich in Firlefanz zu verlieren. Die Basis bildet die klassische Cuisine française, in deren Geheimnisse ihn einst kein Geringerer als Philippe Rochat in Crissier einweihte.

Die Portionen sind stattlich, doch sind die meisten Gerichte in zwei Grössen erhältlich und eignen sich als Vor- wie als Hauptspeise. Das Emmentaler Kalbskotelett im «Brösel-Mantel» (Fr. 68.–), inspiriert wohl von der Cotoletta milanese, der Schwester oder eher Mutter des Wiener Schnitzels, ist etwas dunkler ausgebacken als diese. Das gereicht ihm keineswegs zum Nachteil, zumal es innen rosa und saftig ist. Dazu bringt der erstklassige Kellner, der kompetent, humorvoll und persönlich agiert, ein Kännchen mit formidablem Jus.

Dass das kein billiger Ort ist, zeigt schon die «Busse» für unentschuldigtes Fernbleiben bei Tischreservationen: Sie beträgt 100 Franken pro Kopf. Das geschnetzelte Kalbsfilet mit Rahmsauce (Fr. 66.-) ist noch um einen Fünfliber teurer als das Referenzprodukt in der «Kronenhalle», muss sich vor diesem aber ganz sicher nicht verstecken: Die dieser Spezialität verfallene Baselbieterin am Tisch rühmt es gar als bestes Züri Gschnätzlets, das sie je hatte. Das Fleisch ist perfekt gegart, die Sauce, keine mastige Rahmbombe, hat Tiefe; die Rösti krachen zwischen den Zähnen, ohne trocken oder zu fettig zu sein.

Trost findet hier, wer den legendären Mezzelune des Jacky Donatz selig nachtrauert: Die Brasato-Ravioli der Familie Smolinsky bilden nebst dem Hackbraten (Fr. 60.-) die Klassiker in der «Sihlhalde». Ihr Teig ist überaus dünn und geschmeidig, die Füllung substanziell, der Périgaud-Trüffel-Jus hat Körper und Kraft, ohne das Trüffel-Aroma zu forcieren. Man erhält diese Hausspezialität als Vorspeise (Fr. 36.-) oder als Hauptgang, in zwei Etappen (Fr. 60.-) Auch wen dieser Preis nicht an den Rand der Ohnmacht bringt, muss vor diesem Kunstwerk einfach in die Knie gehen.

Am beliebtesten Dessert des Hauses, dem Soufflé, werden wir uns dann einmal selbst daheim versuchen (das Rezept wird auf der Restaurant-Website verraten!). Dafür erfreuen wir uns an den federleichten, frisch zusammengefügten Milles-feuilles (Fr. 18.-) oder am nicht übersüssten Schoggimousse (Fr. 19.-). Dieses ist mit Crème double und Fruchtcoulis prächtig angerichtet, so dass es von oben an einen Skorpionfisch erinnert. Einzig die Friandises wirken am Ende etwas beliebig kombiniert: Cantucci, Pasta di mandorla, Spitzbuben, Canelés.

Die «Sihlhalde», die sommers mit einer schönen Terrasse lockt, steht in bestem Sinn für old school. Einer wie Gault-Millau-Schweiz-Chef Urs Heller bindet sich hier gerne seine Serviette um den Hals, sonst hätte er das Lokal im letzten Herbst nicht als Gesprächsort für ein Zeitungsinterview gewählt. Und einst war das eine Hochburg der Banker, als diese noch lebten wie die Made im Speck.

Wie ein Bote aus jener Zeit erscheint uns der deutschstämmige Herr, der am Nebentisch in einer privaten, gemischtgeschlechtlichen Viererrunde tafelt: Die Bassstimme des populären ehemaligen UBS-Präsidenten ist unverkennbar, und wir spitzen unvermittelt das Ohr, als wir im dank Spannteppichen schallgedämpften Raum eine Lautkette wie «Tse-Äss» aufzuschnappen glauben. Nun, wir verlassen den Ort wohlgenährt, aber nicht klüger, was den historischen Banken-Deal betrifft.

Restaurant
Sihlhalde Smolinksy
Sihlhaldenstrasse 70
8136 Gattikon
Sonntag und Montag geschlossen.
044 720 09 27

Für diese Kolumne wird unangemeldet und anonym getestet und am Ende die Rechnung stets beglichen. Der Fokus liegt auf Lokalen in Zürich und der Region, mit gelegentlichen Abstechern in andere Landesteile.

Die Sammlung der NZZ-Restaurantkritiken der letzten fünf Jahre finden Sie hier.

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