Extrazelluläre Vesikel sind weit mehr als die Müllabfuhr der Zelle. Die winzigen Bläschen transportieren lebenswichtige Informationen im Körper. Nun beginnt die Medizin, diesen Mechanismus zur Diagnose und zur Heilung von Krankheiten zu nutzen.
Schneiden wir uns mit dem Küchenmesser in den Finger, laufen in unserem Körper sofort alle Kanäle der Kommunikation heiss: Schmerzrezeptoren feuern über Nervenbahnen ihre Warnung in Richtung Gehirn, Hormone lassen den Puls steigen, chemische Signale beordern Immunzellen zur Wunde.
Fortschritte in der Bildgebung haben in den vergangenen Jahren einen weiteren wichtigen Kommunikationsweg des Körpers sichtbar gemacht – die sogenannten extrazellulären Vesikel. Diese winzigen Bläschen in der Grössenordnung von Viren entstehen, wenn Zellen an ihrer Oberfläche Inhalte von der Zellmembran abschnüren. Die Vesikel wandern dann zu benachbarten oder über das Blut auch zu weiter entfernten Zellen.
Erst dachten die Forschenden, die Bläschen seien blosse Transportbehälter, um Abfall aus den Zellen zu entsorgen. Doch Julia Gross, Professorin für Biochemie an der Health and Medical University in Potsdam, sagt: «Dazu werden sie in der Tat auch gebraucht. Dann aber entdeckte man, dass sie insbesondere dem Transport von Information dienen.»
Informationen sitzen auf der Oberfläche
Die kleinen Membranbläschen enthalten Information, etwa in Form von genetischem Material, Fetten oder Eiweissen. Sie können mit der Membran der Zielzelle verschmelzen und übergeben so ihren Inhalt. «Allerdings ist dieser Weg wahrscheinlich eher die Ausnahme», sagt Bernd Giebel, Professor am Universitätsklinikum Essen mit Schwerpunkt auf der Erforschung von extrazellulären Vesikeln.
Die Forschung zeige, dass für die Übertragung von Information vor allem Moleküle auf der Oberfläche der Bläschen entscheidend seien. Diese docken an entsprechende Rezeptoren auf der Oberfläche der Zielzelle an und lösen in deren Innerem verschiedene biochemische Signalwege aus – die Information ist in der Zelle angekommen.
«Die Entdeckung der Vesikel hat eine Revolution ausgelöst», sagt Giebel. Zuerst aufgespürt wurden die winzigen Bläschen in den 1980er Jahren. Seit Anfang der 2000er Jahre boomt das Interesse an ihnen, denn dann wurde ersichtlich, welch wichtige Rolle sie im Organismus spielen. 2013 ging dann der Medizinnobelpreis an drei amerikanische Forscher, die grundlegende Transportprozesse per Vesikel aufgeklärt hatten.
Ablesen, was im Körper geschieht
Die kleinen Bläschen stellten sich als allgegenwärtig heraus: Vermutlich geben alle Zellen des Körpers pausenlos solche Partikel ab. Und nicht nur wir Menschen nutzen sie, sondern auch Tiere, Bakterien und Pflanzen. Giebel sagt: «Vesikel helfen uns, die Abläufe in Lebewesen besser zu verstehen. Und sie können medizinisch genutzt werden.»
Extrazelluläre Vesikel unterscheiden sich stark voneinander, je nachdem, welche Zelle sie ausgestossen hat und welche Informationsträger sie transportieren. Deshalb kann man an ihnen viel darüber ablesen, was gerade im Körper geschieht. Das beginnt schon im Mutterleib. Ein Forschungsteam der Ludwig-Maximilians-Universität München konnte im Fachblatt «Cell Reports» zeigen, dass Vesikel während der Entwicklung unseres Gehirns eine wichtige Rolle spielen, indem sie dazu nötige Signale zwischen den reifenden Gehirnzellen übertragen.
Vesikel spielen aber nicht nur im gesunden Organismus eine wichtige Rolle, sondern auch für Krankheiten. So kommunizieren Tumorzellen mithilfe von Vesikeln untereinander und schützen sich vor dem Zugriff des Immunsystems. Zudem steuern gemäss einer Studie im Journal «Nature» Krebszellen mithilfe der Bläschen, wo im Körper Metastasen entstehen.
Hoffnung, Hirntumoren früher erkennen zu können
Aufgrund ihrer grossen Bedeutung für die Entstehung von Krankheiten versucht man, Vesikel zur Diagnostik zu nutzen. «Wir hoffen, dass sie präzisere Informationen liefern können als bisherige Biomarker», sagt Julia Gross. Sie nutzt in einem Projekt Vesikel, um das individuelle Risiko für Brustkrebs genauer zu bestimmen und damit zielgenauere Screening-Programme zu ermöglichen.
Auch Tobias Weiss von der Klinik für Neurologie des Universitätsspitals Zürich will mit Vesikeln gegen Krebs vorgehen. Dabei hilft ihm, dass jede Krebsart spezifische Vesikel erzeugt. Sein Ziel: Hirntumoren auf Basis der Vesikel, die sie ins Blut abgeben, früher erkennen. Mit seiner neuen Methode kann Weiss mit einer Trefferquote von mehr als 90 Prozent zwischen gesunden und krebskranken Personen unterscheiden. An der Menge der Vesikel im Blut lässt sich sogar die Grösse eines Hirntumors abschätzen. So könnte in Zukunft ein Bluttest die Diagnose von Hirntumoren deutlich vereinfachen und dabei helfen, den Erfolg einer Therapie zu überwachen.
Aber nicht nur in der Diagnostik sollen extrazelluläre Vesikel helfen. «Sie könnten auch die Behandlung zahlreicher Krankheiten massgeblich verbessern – und das ohne grosse Nebenwirkungen», sagt Bernd Giebel. Die Idee: Aufgrund ihrer kommunikativen Fähigkeiten könnte man Vesikel auch dazu nutzen, die fehlerhafte Kommunikation bei Krankheiten zu korrigieren. Auch Julia Gross ist zuversichtlich: «Es gibt aber noch viele offene Fragen. So wissen wir noch nicht im Detail, welche Zellen welche Vesikel ausstossen und wo diese überall aufgenommen werden.»
Vesikel spielen eine wichtige Rolle für das Immunsystem
Gut belegt ist die entscheidende Rolle der vesikelbasierten Kommunikation für das Immunsystem. Dieses ist bei vielen Krankheiten entweder zu sehr damit beschäftigt, zur Abwehr von Krankheitserregern Entzündungen zu produzieren – oder im Sinne der Regeneration neues Gewebe aufzubauen. Gerät die Balance aus entzündlichen und regenerativen Prozessen aus dem Gleichgewicht, können wir krank werden. Ein Zuviel an Entzündung begünstigt degenerative Krankheiten wie Parkinson oder multiple Sklerose. Zu viel Regeneration erhöht die Gefahr von Tumoren.
Die Vesikel hätten dabei offenbar die Fähigkeit, Immunzellen zu orchestrieren, so Giebel. «Sie können Entzündungsprozesse auslösen. Sie sind aber auch fähig, Prozesse der Abwehr in solche der Regeneration umzuwandeln.» Das könnte sie für die Therapie einer grossen Zahl von Krankheiten hilfreich machen – von Rheuma über Nierenkrankheiten bis zum Schlaganfall. Denn auch nach einem Hirnschlag kommt es zu einer überschiessenden Immunreaktion, die das betroffene Nervengewebe weiter schädigt.
Um solche Prozesse zu stoppen, nutzt man in der Medizin schon länger Stammzellen, welche sich noch in unterschiedliche spezialisierte Zelltypen verwandeln können. Die Forschungsgruppe um Bernd Giebel konnte zeigen, dass diese ihre Wirkung über einen ganz bestimmten Mechanismus entfalten: extrazelluläre Vesikel.
Damit bietet sich die Chance, anstelle solcher Zellen gleich Vesikel zu verwenden, was die Sache deutlich einfacher machen könnte. Denn Stammzellen sind schwierig zu züchten. Zudem bergen einige von ihnen die Gefahr, sich unkontrolliert zu vermehren und damit Krebs auszulösen. Bei Vesikeln fällt dieses Risiko weg, da sie sich nicht selbständig vermehren können.
Das Ziel: Vesikel sollen standardisierte Medikamente werden
Giebels Gruppe arbeitet jetzt daran, Vesikel im industriellen Massstab herzustellen. Dazu züchten die Forscher Stammzellen in Bioreaktoren, ernten die von ihnen produzierten Vesikel und verarbeiten sie zu standardisierten Präparaten. Diese sollen nun in klinischen Studien getestet werden – unter anderem mit Schlaganfallpatienten.
Erste vielversprechende klinische Studien gibt es bereits zu anderen Krankheiten – etwa um Lungenschädigungen bei Frühgeborenen zu behandeln oder Vernarbungsprozesse nach Operationen zu verhindern. Auch bei der Behandlung der chronischen Nierenkrankheit oder von Covid-19 wurden bereits Vesikel erprobt. Eine weitere Einsatzmöglichkeit der winzigen Partikel: Sie sollen als Transportgefässe für pharmazeutische Wirkstoffe dienen und diese gezielter als bisher an ihren Wirkungsort im Körper bringen.
Noch steht die Wissenschaft von den extrazellulären Vesikeln am Anfang. Doch die Forscher sind sich einig: Die kleinen Multitalente werden in der Medizin noch gross herauskommen.