Mittwoch, November 27

Viele qualitativ hochwertige Unternehmen sind sehr teuer. Hohes Gewinnwachstum relativiere die Bewertung, argumentieren die Supporter. Doch ist das wirklich so, und wie lassen sich günstigere Alternativen finden?

Der Hype um künstliche Intelligenz kennt keine Grenzen. Unentwegt streben die als Profiteure ausgemachten Aktien in die Höhe. Der Kurs des amerikanischen Grafikkartenherstellers Nvidia hat sich seit Anfang Jahr zwischenzeitlich fast verdreifacht. Trotz einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 74 jagen viele Investoren den Titeln hinterher. Die hohe Bewertung relativieren sie mit den guten Wachstumsaussichten. Steigen Umsatz und Gewinn überproportional, sinkt das KGV, der Aktienkurs wächst also in die Bewertung hinein, wie es im Jargon heisst.

In diese Kerbe schlägt Terry Smith. Der britische Fondsmanager setzt auf Qualitätsunternehmen mit hoher Kapitalrendite und guten Wachstumsaussichten, die durch die Reinvestition des Cashflows einen Zinseszinseffekt erwirtschaften, wie er jüngst im Gespräch mit The Market ausgeführt hat. Novo Nordisk, seine grösste Position, weist ein KGV von 45 auf, was ihn aber nicht beunruhigt. «Ein KGV von 45 mag hoch sein, aber nicht beim derzeitigen Wachstum, das weit über 20% liegt, wahrscheinlich eher bei 30%.» Die Bewertung werde deshalb ziemlich schnell sinken. «In zwei Jahren wird Novo zu einem KGV von etwa 20 bewertet sein, was im Einklang mit dem breiteren Aktienmarkt steht.»

Qualität wichtiger als Bewertung

Unter den zehn grössten Positionen in dem von Smith verwalteten Fonds befinden sich weitere erstklassige, aber hoch bewertete Unternehmen wie Microsoft, Meta Platforms, L’Oréal, Visa und LVMH. Doch auch da relativiert er; die Bewertung sei weniger wichtig als die Qualität. Für L’Oréal hätte man vor fünfzig Jahren ein KGV von 281 zahlen können und hätte dennoch besser abgeschnitten als der S&P 500. «Schon Warren Buffett sagte, es sei besser, ein grossartiges Unternehmen zu einem fairen Preis zu besitzen als ein faires Unternehmen zu einem grossartigen Preis», zitiert er die Investorenlegende aus dem US-Gliedstaat Nebraska.

Dennoch ignoriert auch Smith die Bewertung nicht. «Wir haben eine sehr einfache Faustregel: Wir nehmen den freien Cashflow, den ein Unternehmen erwirtschaftet, geteilt durch seinen Marktwert, das ist die Free-Cashflow-Rendite, und dann nehmen wir das, was wir für die mittelfristige Wachstumsrate halten.» Addiere man die Kapitalrendite und die Wachstumsrate, erhalte man ein grobes Mass für die zu erwartende Rendite. «Dabei ist es unerheblich, ob die Rendite des freien Cashflows 1% und das Wachstum 13% beträgt oder ob wir eine Free-Cashflow-Rendite von 4% und ein Wachstum von 10% erzielen.» Beides ergibt 14% und liegt damit deutlich über den Kapitalkosten, die viele Anleger auf 10% veranschlagen.

Zinsen nicht vergessen

Mit diesem Argument wenig anfangen kann der Münchner Value-Manager Stefan Rehder, der wie Smith Warren Buffett als Vorbild nennt. «Wenn es nur zwei relevante Komponenten gäbe, Free-Cashflow-Rendite und Wachstum, dann würde bei einem Wachstum von 13% der Gesamtertrag immer über den Kapitalkosten liegen, selbst wenn der freie Cashflow gegen null tendiert», sagt er. Auch der Preis spiele in dieser Argumentation keine Rolle. «Die Rendite kommt zustande, egal, ob die Microsoft-Aktie 1000 $ oder 1’000’000 $ kostet. Das macht doch keinen Sinn.» Wachstum allein genüge nicht als Bewertungsanker, sagt Rehder, der Titeln wie Alphabet, Amazon, Meta Platforms und Microsoft selbst lange die Treue gehalten hatte.

Doch warum sieht ein erfahrener Investor wie Terry Smith das anders? «Er vernachlässigt, dass die Bewertungen von Aktien zinssensitiv sind», sagt Rehder und zitiert Buffett: «Bei jedem Unternehmen, egal, ob Coca-Cola, Gillette oder Wells Fargo, ist der innere Werte zu 100% von den Zinsen abhängig.» Stetig sinkende Zinsen hätten in den letzten Jahrzehnten die Börsen und vor allem die Bewertungs-Multiples von Wachstumsunternehmen beflügelt, die inzwischen entsprechend hoch seien. «Steigende Zinsen üben eine Gravitationskraft auf die Vermögenspreise aus. Eine Rendite des freien Cashflows von 1 oder 2%, wie viele dieser Namen sie aufweisen, ist dann nicht mehr attraktiv.»

The Market macht die Probe aufs Exempel

Wie aber präsentiert sich das Bild in der Praxis – welche Unternehmen «leben» derzeit von hohen Gewinnerwartungen, welche punkten mit einer hohen Rendite des freien Cashflows? The Market hat die Probe aufs Exempel gemacht und die grössten Unternehmen aus den USA, Europa und der Schweiz auf diese beiden Faktoren durchleuchtet. Im Gegensatz zu Terry Smith, der den freien Cashflow ins Verhältnis zur Marktkapitalisierung setzt, verwendet The Market den aktuellen Unternehmenswert – also Marktkapitalisierung plus Nettoschuld. Die so ermittelte Rendite entspricht dem Ertrag, den Anleger auf ihre Investition erwarten können, wenn sie das gesamte Unternehmen, also mit Eigen- und Fremdkapital, aufkaufen.

Die Ergebnisse müssen mit einer Prise Vorsicht genommen werden, da der freie Cashflow wegen eines laufenden Investitionsprogramms oder operativer Schwierigkeiten temporär gedrückt oder – aus umgekehrten Gründen – überhöht sein kann. Experten wie Rehder rechnen deshalb mit normalisierten Renditen.

Dennoch unterstreicht die vereinfachende Analyse das Gesagte. Microsoft kommt auf eine Cashflow-Rendite von 2,1%. Wird das Wachstum von jährlich 21,7% addiert – verwendet werden hier die Ebitda-Schätzungen der auf Bloomberg vertretenen Analysten für die nächsten drei Jahre –, ergibt sich ein stolzer Gesamtertrag von 23,8% pro Jahr, der weit über den Kapitalkosten liegt. «Aus meiner Perspektive macht man sich damit aber zu stark abhängig von Prognosen», warnt Rehder.

Weil Rehder befürchtet, dass Inflation und Zinsen hoch bleiben, bevorzugt er Titel, deren Bewertung weniger stark vom künftigen Wachstum abhängig ist. Er vergleicht die derzeitige Lage mit den frühen Siebzigerjahren. Wie heute sank damals die Inflation, nachdem sie zuvor deutlich gestiegen war und die Notenbank zu Zinserhöhungen gezwungen hatte. Zwischen 1968 und 1970 brachen die Börsen deshalb ein. Besonders arg unter die Räder kamen spekulative Small Caps.

Erinnerungen an die Nifty-Fifty-Blase kommen auf

Weil den Anlegern der Schrecken noch in den Knochen steckte, sie wegen der rückläufigen Inflation und der Zinssenkungen des Fed aber dennoch investieren wollten, schichteten sie ab 1970 in die später als Nifty Fifty bekannt gewordene Gruppe von qualitativ hochwertigen und grosskapitalisierten US-Wachstumsaktien um. Dazu zählten Namen wie Polaroid, Eastman Kodak, Johnson & Johnson, Merck und Xerox. Die in die Höhe schiessende Bewertung war den Anlegern egal. Die Unternehmen galten als unfehlbar – dies auch, weil sie in den Jahren zuvor operativ fast nie enttäuscht hatten.

«Auch heute hängt die Börse von einer auserwählten Gruppe von Wachstumsunternehmen ab, die jedermann halten will», schreibt Wirtschaftshistoriker Edward Chancellor in einem Beitrag auf der Finanzplattform Breakingviews.com. «Die vierzig grössten Titel im S&P 500 machen 55% des Index aus, verglichen mit 60% im Jahr 1973.» Gemäss Chancellor handelten die fünfzig grössten Aktien an der New Yorker Börse 1973 im Schnitt zu einem KGV von 48. Heute kommen die fünfzig grössten US-Unternehmen auf ein KGV von knapp 40.

Damals kam die Party zu einem jähen Ende, als das Fed wegen des ersten Ölschocks 1973 die Zinsen deutlich anheben musste. Im folgenden Abschwung büssten die Nifty Fifty im Mittel 60% und damit mehr ein als der breite Markt, schreibt Chancellor. Titel wie McDonald’s und Xerox fielen mehr als 70%, obwohl die Unternehmen operativ nicht enttäuschten. Es dauerte im Mittel zehn Jahre, bis die Verluste ausgebügelt waren – und das, obwohl die Gewinne dieser Gesellschaften weiter gewachsen sind.

Niedrige Bewertung als Absicherung gegen hohe Zinsen

Um sich gegen ein solches Szenario zu wappnen, zieht Rehder vernünftig bewertete Qualitätsaktien vor. «Steigen die Zinsen, sichert die hohe Cashflow-Rendite das Abwärtsrisiko ab», sagt er. Wie in den Siebzigerjahren komme bei teuren Valoren wie Microsoft womöglich die Bewertung unter Druck. Sinke das KGV über drei Jahre um ein Viertel, schlage dies mit einer jährlichen Belastung von 9% zu Buche. Halbiere es sich, koste das jährlich mehr als 20%. Aus 23,8% Rendite werden dann etwas mehr als 3%. Dazu komme das Enttäuschungspotenzial, falls die hohen Erwartungen nicht erfüllt würden.

Auch Terry Smith zahlt nicht jeden Preis. Vorsichtig äussert er sich zu Nvidia. Die Valoren des Grafikkartenspezialisten weisen nach den starken Kursavancen eine magere Free-Cashflow-Rendite von 1,3% auf, die sich natürlich relativiert, sofern Nvidia über die nächsten drei Jahre wie von den Analysten erwartet tatsächlich jährlich 42% wachsen kann. Smith ist diesbezüglich allerdings skeptisch.

«Ich glaube nicht, dass das exponentielle Wachstum der Nachfrage nach Nvidia-Chips andauern wird», sagt er. Bisher stehe der Beweis noch aus, ob sich künstliche Intelligenz wirklich monetarisieren lasse. «Ausserdem schläft die Konkurrenz nicht.» Von Tesla, einem weiteren Vertreter der besonders gefragten «glorreichen Sieben», hält er sich ebenfalls fern, weil keines der Qualitätskriterien erfüllt werde.

Attraktive Tabakaktien

Dafür hält Smith mit Philip Morris ein Unternehmen aus der derzeit nicht besonders beliebten Tabakbranche, das als Folge des Desinteresses günstig bewertet ist. So kommen die Valoren auf eine Cashflow-Rendite von immerhin 4,3%. Die Analysten trauen Philipp Morris 12,7% Wachstum zu. Zum Vergleich: In den vergangenen Jahren ist der Umsatz bei Ebitda-Margen zwischen 41 und 46% jährlich rund 10% gewachsen.

Smith traut das dem Unternehmen dank dem iQOS- (was für «I quit ordinary smoking» steht und Produkte meint, die Tabak erhitzen statt verbrennen) und dem Nikotinbeutelgeschäft weiterhin zu. «Philip Morris wächst, auch wenn das traditionelle Zigarettengeschäft mengenmässig nicht sehr stark expandiert.»

Nicht überraschend zählen auch Konkurrenten wie Altria (12% Gesamtrendite, aufgeteilt in eine Cashflow-Rendite von 8,9% und ein jährliches Wachstum von 3,1%) sowie British American Tobacco (11,1%, aufgeteilt in 9,5 und 1,6%) zu den hoch rentierenden Aktien. Im Gegensatz zu Philip Morris gehören sie in ihren Indizes sogar zu den Werten mit dem höchsten Anteil der Cashflow- an der Gesamtrendite, sie sind aber stärker vom traditionellen Zigarettengeschäft abhängig.

Qualität aus der zweiten und der dritten Reihe bevorzugen

Rehder findet Unternehmen mit hoher Free-Cashflow-Rendite und moderaten Wachstumserwartungen derzeit vor allem in der zweiten und der dritten Reihe und da oft bei lokalen Dienstleistern, die ihren Markt dominieren. Besonders angetan haben es ihm die Papiere des Umzugsunternehmens U-Haul. «Es hat in den USA einen Marktanteil von 60%, während der zweitplatzierte Anbieter auf 9% kommt», sagt er. Das Geschäft sei äusserst stabil. Die Rendite des freien Cashflows betrage auf normalisierter Basis 8 bis 10%. Derzeit liege sie niedriger, weil U-Haul in Lagerhäuser investiere, was das Umzugsgeschäft aber ideal ergänzen werde.

Welche Schlüsse erlaubt die Analyse von The Market? Welche Titel sind durch einen ansprechenden freien Cashflow abgestützt? Um die Auswahl einzuschränken, sollen nur Valoren angezeigt werden, die eine Rendite des freien Cashflows von über 5%, ein jährliches Gewinnwachstum zwischen 0 und maximal 10% sowie eine jährliche Gesamtrendite von mindestens 10% versprechen.

In den USA bleiben 24 der 500 Unternehmen aus dem S&P 500 übrig. Viele der Namen sind bereits aus der monatlichen Qualitätsauswahl bekannt. Wie dort dominieren Ölaktien. Bleibt der Ölpreis tatsächlich hoch und investieren die Unternehmen weiterhin diszipliniert, dürften sich hier attraktive Gelegenheiten bieten. U-Haul fehlt, weil ihre Valoren nicht im S&P 500 enthalten sind.

In Europa erfüllen 62 Unternehmen die Kriterien

In Europa bleiben mit den gleichen Kriterien 62 der 600 Namen aus dem Stoxx Europe 600 hängen, was die günstigere Bewertung der Börsen auf dem Alten Kontinent untermauert. Auch hier kommt es zum Wiedersehen mit alten Bekannten aus der Qualitätsauswahl wie dem britischen Outsourcing-Partner Serco, der kürzlich den Sprung in die Selektion geschafft hat. Die folgende Tabelle zeigt von den 62 Namen die zwanzig mit dem höchsten Gesamtertrag.

Aus den etwas mehr als 200 Aktien im SPI erfüllen neun Namen die Kriterien, darunter erstaunlich viele Zykliker, die wegen des schwankenden Cashflows bei Qualitätsinvestoren einen schweren Stand haben. Wie schon angedeutet kann der derzeitige freie Mittelzufluss wegen laufender oder ausbleibender Investitionen oder des Stands im Konjunkturzyklus verfälscht sein, was natürlich auch seine Rendite tangiert. Die Bewertungsmethode von Terry Smith ist bei Zyklikern deshalb mit Vorsicht zu geniessen.

Die Liste ist denn auch nicht als Kaufempfehlung zu verstehen, sondern als Anstoss für eigene Betrachtungen. Aus der Schweiz stuft die Redaktion von The Market die Titel von Bossard, DKSH und Holcim als attraktiv ein, auch Novartis bietet Chancen. Bei Swisscom reizt primär die hohe Dividendenrendite. Die sieben deutschen Vertreter – Brenntag, Lufthansa, Deutsche Post, Deutsche Telekom, Freenet, Heidelberg Materials und Knorr-Bremse – werden demnächst in einem eigenen Artikel beleuchtet.

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