Montag, November 25

AKW-Befürworter wollen das Kernenergieverbot mit einer Initiative kippen. Die Diskussion bringe nichts, sagt Michael Wider, Präsident des Strombranchenverbandes VSE. Entscheidend seien der Abschluss eines Stromabkommens mit Europa und der Ausbau der Erneuerbaren.

Sie sind seit sieben Jahren Präsident des VSE, des Branchendachverbandes der Stromwirtschaft. Im Mai werden Sie Ihren Abschied geben. Was waren der grösste Ärger und die grösste Freude in Ihrer Amtszeit?

Meine grösste Freude: Das Thema Energie steht in der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit ganz weit oben. Dort also, wo es aufgrund seiner grossen strategischen Bedeutung hingehört. Mein grösster Ärger ist, wenn Dogmen vertreten werden. Wenn zum Beispiel Nuklear-, Wasser- und Solarenergie gegeneinander ausgespielt werden. Die Energieversorgung der Zukunft wird aus vielen Puzzlesteinen bestehen. Es ist sinnlos, sich auf einen einzelnen zu fixieren.

Die Strombranche hängt aus Sicht mancher Kritiker auch einem Dogma an: dass ein Stromabkommen mit Europa unerlässlich ist.

Die Bedeutung des Abkommens lässt sich mit Zahlen zeigen: Im Jahr 2022 verbrauchte die Schweiz rund 60 Terawattstunden (TWh) und produzierte 64 TWh Strom. In der gleichen Zeit importierten wir 33 TWh und exportierten rund 30 TWh – diese Exporte und Importe entsprechen also je gut der Hälfte unseres Verbrauchs. Auch künftig werden diese enormen Strommengen durch die Schweiz fliessen, um mit dem Ausland ausgetauscht zu werden. Die Frage ist nur: Wird dies in einem geordneten Rahmen geschehen, mit uns als gleichberechtigtem Partner?

Was würde ohne Abkommen passieren?

Unser Stromsystem ist an 41 Punkten mit dem Ausland verbunden. Ein Inseldasein ist unmöglich. Die Stromflüsse werden von den europäischen Betreibern des Verbundnetzes gemeinsam gesteuert. Als die Schweiz noch mit am Tisch sass, hat sie mitgeplant. Heute muss Swissgrid, die das Schweizer Übertragungsnetz betreibt, Dutzende Male am Tag reagieren und korrigierend ins Netz eingreifen, weil ihr diese Informationen fehlen. Diese Situation würde sich weiter verschlechtern.

Michael Wider

Der Jurist präsidiert den Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE), dessen über 400 Mitglieder 90 Prozent des Schweizer Stroms herstellen. Wider ist stellvertretender CEO und Leiter Division Schweiz von Alpiq, dem zweitgrössten Schweizer Stromunternehmen.

Bis jetzt zumindest hat Swissgrid das im Griff. Der Strom ist noch nicht ausgefallen.

Ja. Vor allem mit der Schweizer Wasserkraft schaffen wir es, das Netz auszugleichen. Doch diese könnte sinnvoller eingesetzt werden.

Steigt die Gefahr von Blackouts?

Was steigt, ist die Gefahr einer Strommangellage. In einer solchen wird es schwieriger und aufwendiger, unser System zu stabilisieren. Und die Gefahr wächst, dass wir den Verbrauch und die Produktion mit einschneidenden Massnahmen steuern müssen.

Das heisst?

Im Extremfall kann eine Strommangellage dazu führen, dass es zu geplanten Netzabschaltungen kommt, dass also alle Regionen alternierend für ein paar Stunden keinen Strom haben.

Sie sind auch Vizechef des Stromriesen Alpiq, der mit dem Stromhandel viel Geld verdient. Dient ein Vertrag mit Europa nicht vornehmlich den Interessen von Alpiq und der anderen rund vierzig Schweizer Stromunternehmen, die auf dem europäischen Grosshandelsmarkt tätig sind?

Das ist falsch. Alle der über 600 Stromunternehmen profitieren. Dank der Verbindung zu Europa können wir im Sommer unseren überschüssigen Strom absetzen und – ganz entscheidend – im Winter Strom importieren. Wenn es auf der höchsten Spannungsebene zu instabilen Lagen kommt, wirkt sich das ebenfalls bis zu den kleinen Stromversorgern und ihren Kundinnen und Kunden aus. Dazu kommt: Die Kosten, die instabile Situationen verursachen, tragen wir alle. Ohne Abkommen würden die Preise für die Endkunden steigen.

Wird es ein Stromabkommen ohne vollständige Öffnung des Schweizer Marktes geben?

Wohl nicht.

Eine Marktöffnung ist aber selbst in Teilen der Strombranche unpopulär.

Die EU akzeptiert ganz unterschiedliche Formen der Marktöffnung. Es gibt zum Beispiel Modelle, in denen die Grundversorgung in der einen oder anderen Form weiterbesteht und nur die Kunden in den freien Markt wechseln, die das wollen. Diese Varianten gilt es jetzt anzuschauen. Ich bin sicher: Es wird Lösungen geben, denen die ganze Branche zustimmen kann.

Die Gewerkschaften befürchten einen Abbau von Arbeitsplätzen.

In unserer Branche herrscht schon heute ein Mangel an Fachkräften. Daran würde eine Marktöffnung nichts ändern. Es würden eher noch zusätzliche Arbeitsplätze entstehen, weil wir in einer Branche tätig sind, die stark wächst.

Vor kurzem hat das Parlament beinahe einstimmig ein neues Gesetz beschlossen, um den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Trotzdem ist nun ein Referendum zustande gekommen. Ärgert Sie das?

Ich kann das nur schwer nachvollziehen. Jetzt droht leider erneut eine Verzögerung beim so wichtigen Ausbau der erneuerbaren Energien. Unsere Stromunternehmen planen ihre Projekte trotzdem mit Hochdruck, damit sie möglichst rasch mit dem Bau beginnen können. Aber dafür braucht es ein Ja der Bevölkerung zur Vorlage für eine sichere Stromversorgung, wie das Stromgesetz in der Abstimmung heissen wird. Zu diesem Gesetz gibt es keine Alternative.

Das Gesetz steckt voller Kompromisse. Bringt es denn so viel?

Wieso sollen Kompromisse etwas Negatives sein? Das Stromgesetz verkürzt die Verfahren, fördert die Energieeffizienz und beschleunigt den Ausbau der erneuerbaren Energien. Und es gibt vor, wo der Bau von Energieproduktionsanlagen Vorrang gegenüber Schutzinteressen haben soll – und wo nicht. All das ist substanziell.

Gäbe es keine Alternativen?

Nur wenige. Wollen wir beispielsweise wirklich Gaskraftwerke bauen, anstatt auf Photovoltaik und Windenergie zu setzen? Die Alternativen zum neuen Stromgesetz sind alle schlechter.

Am 16. Februar wird die sogenannte «Blackout stoppen»-Initiative eingereicht. Sie schlägt eine andere Lösung vor und will das Bauverbot für neue Kernkraftwerke aufheben. Was hält Ihr Verband davon?

Wir alle wollen Versorgungssicherheit und Klimafreundlichkeit. Das ist unbestritten.

Aber?

Die Diskussion kommt zum falschen Zeitpunkt. Wir haben noch nicht einmal richtig mit der Umsetzung der Energiestrategie begonnen und sollen diese nun bereits über den Haufen werfen. Das schafft Verunsicherung und Verzögerung – und das ist genau das, was wir jetzt nicht brauchen können. Die Initiative hat zudem inhaltliche Schwächen.

Welche?

Sie ist zum Beispiel unklar formuliert. Die Kernenergie wird nicht einmal explizit erwähnt, obwohl das ihr Hauptanliegen ist. Zudem würde sie Unsicherheiten bei der Regelung der Verantwortlichkeiten für die Stromversorgung schaffen. Will man das Kernenergieverbot abschaffen, gibt es direktere Wege, zum Beispiel durch eine Änderung des Kernenergiegesetzes. Darum ist diese Volksinitiative der falsche Weg.

Ist das eine Absage an den Bau von neuen Kernanlagen?

Nein. Es geht darum, die Prioritäten richtig zu setzen. In der kurzen und der mittleren Frist muss der Fokus auf dem Ausbau der erneuerbaren Energien liegen.

Und in der langen Frist?

Es spricht nichts dagegen, schon jetzt die Fortschritte aller Technologien mitzuverfolgen, auch jene bei der Kernenergie. Wir müssen uns aber genau überlegen, was sich heute und morgen umsetzen lässt. Und welche Lösungen eben länger benötigen. In der Diskussion um die Blackout-Initiative werden die unterschiedlichen Zeithorizonte durcheinandergebracht. So kommen wir nicht weiter.

Oft wird oft von kleinen, modularen Kernreaktoren gesprochen, die günstiger und sicherer sein sollen. Wann könnten sie zum Einsatz kommen?

Das kann niemand genau sagen. Manche Experten reden von zehn Jahren, andere von zwanzig oder noch mehr. Allerdings ist es eine Tatsache, dass die Nachfrage nach der Technologie steigt und sie heute von internationalen Grosskonzernen entwickelt wird. Das könnte den Zeitplan beschleunigen.

Die Schweiz ist ein atomskeptisches Land. Sie beschloss 2017 den Atomausstieg, und ein Meinungsumschwung ist bis jetzt nicht absehbar. Könnte das ändern, wenn neue Technologien zur Verfügung stehen?

Ja, wenn diese eine Kernschmelze ausschliessen und das Abfallthema besser lösen als die heutige Generation. Zudem müssen sie wirtschaftlich betrieben werden können. Dann ist ein Meinungsumschwung vorstellbar.

Wie realistisch ist es, dass die Energiewende – der Ausstieg aus der fossilen und der nuklearen Stromproduktion – gelingt?

Ich bin sehr zuversichtlich. Ich nehme eine Aufbruchsstimmung wahr. Nicht nur in der Strombranche, sondern darüber hinaus: in den Gemeinden, den Kantonen, in der Politik, in der Wirtschaft. Das habe ich noch nie so stark gespürt.

Woher rührt sie?

Die noch immer andauernde europäische Energiekrise hat uns alle aufgerüttelt. Ein weiterer Grund ist, dass der Bund die Protagonisten der Energiepolitik viel stärker einbezieht. Bei wichtigen Themen sitzen heute alle Akteure gemeinsam an einem Tisch. Es wird offen und transparent diskutiert. Dadurch schaffen wir es, nicht mehr nur den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Sondern deutlich mehr.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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