Samstag, Dezember 21

Die Tat hat die Schweiz aufgewühlt. Nun reicht die Familie des iranischen Asylbewerbers Strafanzeige gegen die Polizei ein. Eine Annäherung an die letzten Monate seines Lebens.

Der Fall hat die Schweiz erschüttert – nun nimmt er eine neue Wendung: Die Familie von Qadr B., der am 8. Februar während rund vier Stunden in einem Waadtländer Regionalzug 13 Personen in Geiselhaft hielt, reicht Strafanzeige ein. Diese richtet sich gegen «alle Personen, die auf unerlaubte Weise zum Tod» ihres Angehörigen beigetragen hätten, berichtet das Westschweizer Fernsehen RTS. Der 32-jährige Iraner wurde von der Polizei erschossen, nachdem sie ihn nicht mit einem Taser hatte stoppen können.

Die Familie, die in einem Dorf im kurdischen Gebiet an der iranisch-irakischen Grenze lebt, heisst die Geiselnahme nicht gut. «Aber er hat es nicht verdient, getötet zu werden. Es ist eine Ungerechtigkeit», sagt sein jüngerer Bruder Vafa B. gegenüber den RTS-Reportern. Allerdings ist die Schussabgabe der Polizei ohnehin Gegenstand einer Untersuchung. Ob der Schütze korrekt gehandelt hat, wäre also auch ohne die Anzeige der Familie abgeklärt worden.

Wie ist es dazu gekommen, dass der psychisch labile Asylbewerber zur Tat schritt? Hätte das Drama, das den Alltag der ehemaligen Geiseln weiterhin beeinträchtigt, verhindert werden können? Die NZZ hat sich die turbulente Vergangenheit des Mannes angeschaut – und dabei Bemerkenswertes gefunden.

Im Hotel taucht er nicht auf

Qadr B. reist am 1. August 2022 in die Schweiz ein. Er stellt ein Asylgesuch im Bundesasylzentrum von Boudry und wird am 11. November dem Kanton Genf zugeteilt. Dort erhält er den Ausweis N. Aufgrund der hohen Asylzahlen sind die Kantone in jenen Wochen überlastet. Der Iraner wird nach einer ersten Abklärung vorübergehend in einem Hotel einquartiert.

Doch dort taucht er am 16. November 2022 entgegen der Vereinbarung nicht auf. Als er wieder auffindbar ist, klären die Genfer Behörden seinen psychischen Gesundheitszustand ab. Der Befund ist besorgniserregend: Die Fachleute stellen «paranoide Tendenzen» fest, der Mann muss medizinisch betreut werden. Im Februar 2023 schliesslich ist die Notlage derart akut, dass ihn die Ärzte gegen seinen Willen in eine Genfer Psychiatrieklinik einweisen. Wie lange er dort bleiben muss, ist nicht gesichert.

Klar ist hingegen, dass er trotz medizinischer Betreuung plötzlich untertaucht. Im Juni 2023 sei er «administrativ verschwunden», bestätigt das Genfer Sozialamt auf Anfrage. Der Kanton informiert das Staatssekretariat für Migration (SEM) in Bern und stellt die finanzielle Unterstützung an ihn ein.

Fröhliche Bilder auf Social Media

Wohin Qadr B. in jenem Sommer gezogen ist, zeigt ein Blick in die sozialen Netzwerke. Auf Plattformen wie Tiktok, Instagram und Facebook war er äusserst aktiv. Dort präsentiert er sich als fröhlichen, lebensbejahenden Menschen. «Pass life with laughter» («Verbringe das Leben mit Lachen») lautet der Leitspruch seines Profils auf Instagram.

Insgesamt sind es unverfängliche Zitate und Bilder, die er von sich preisgibt. Weder zeigt sich darin ein Hang zu Gewalt noch eine radikale Gesinnung. Abgesehen von einigen Posts, welche die Proteste in Iran nach der Ermordung von Masha Amini gutheissen, gibt er seiner politischen Haltung keinen Raum.

Dafür finden sich auf Social Media zahlreiche Zeugnisse eines regelrechten Migrationsparcours. Die fröhlich wirkenden Fotos und Videos sind offensichtlich für die Daheimgebliebenen bestimmt und zeigen einen gepflegt aussehenden jungen Mann, der sich als souveräner Reisender gibt.

Ein Bild vom Winter 2021 zeugt davon, wie er sich wohl in der Türkei als Fischer versucht. Es ist vermutlich das erste Land, das er nach seiner Abreise aus Iran durchquert. In Athen posiert er im Sommer 2022 vor der Nationalbibliothek – offen ist, ob er in Griechenland auch ein Asylgesuch gestellt hat. Im Dezember 2022 steht er in Genf auf einer Strasse und freut sich über das Schneetreiben. Immer wieder postet er Bilder von sich und seinen Reisegefährten, aber auch ältere Aufnahmen aus seiner Heimat, die Männer in traditioneller kurdischer Kleidung zeigen.

Was machte er in Birmingham?

In jenem Sommer 2023, als die Genfer Migrationsbehörden seine Spur verlieren, entdeckt man auf Instagram und Tiktok Bilder aus dem englischen Birmingham. Wie lange hielt er sich dort auf? Und vor allem: Warum blieb er nicht in Grossbritannien, das seit dem Brexit Asylbewerber – gemäss Dublin-Abkommen – nicht mehr an frühere Aufenthaltsländer zurückweisen kann? Die Fragen bleiben ungeklärt.

Am 8. September 2023 taucht er jedenfalls plötzlich wieder in Genf auf. Sein Dossier wird reaktiviert – doch wiederum bleibt Qadr B. nicht lange im System. Bereits am 20. Oktober erklärt der Kanton ihn erneut für verschwunden. Wohin geht er? Die Social Media geben dazu keine Hinweise.

RTS berichtet, gestützt auf Aussagen von Bekannten von ihm, dass er via Deutschland nach Polen gelangt sei. Eine Person erzählt gar, dass er in die Ukraine habe weiterziehen wollen, um dort «zu kämpfen und zu sterben». In der Tat erwähnt Qadr B. die Ukraine während der Geiselnahme. Dies ist auf einem Video zu hören, das ein Passagier aufgenommen hat.

Medizinische Hilfe abgelehnt

Ob er von den polnischen Behörden aufgegriffen und an die Schweiz zurückgewiesen wurde, ist unklar. Jedenfalls meldet er sich am 24. Januar dieses Jahres wieder bei den Genfer Behörden. Der Mann wird in der Kollektivunterkunft Palexpo einquartiert. Erneut fällt er dort negativ auf, gemäss RTS erleidet er in der Nacht vom 6. auf den 7. Februar eine nervliche Krise und wirft einen Tisch um.

Doch eine Person gegen ihren Willen psychiatrisch zu betreuen, ist nur in Ausnahmefällen möglich – etwa dann, wenn der Patient sein eigenes oder das Leben anderer gefährdet. Gemäss NZZ-Recherchen erklärt er am 7. Februar, also am Tag vor der Tat, gegenüber den Behörden, dass er keine medizinische Hilfe benötige. Er habe eine schwierige Zeit durchlebt, die nun aber hinter ihm sei.

Am 8. Februar schliesslich veröffentlicht der Iraner eine Serie von Bildern, die ihn mit einem etwa zehnjährigen, dunkelhaarigen Buben zeigen. Laut Kommentaren unter dem Eintrag handelt es sich angeblich um seinen Sohn.

Frau trifft zu spät ein

Weitere Fragen bleiben offen, so etwa seine Beziehung zu einer SEM-Mitarbeiterin, die seinen Fall betreute. Trieb ihn eine nicht erwiderte Zuneigung in den Abgrund? Wie die Waadtländer Behörden bestätigen, verlangt er direkt aus dem Regionalzug, die Frau zu sehen – es war seine einzige Forderung. Gemäss Aussage einer Geisel reist sie am späten Abend tatsächlich an den Tatort, wie RTS berichtet. Sie will offenbar mithelfen, die äusserst angespannte Situation zu deeskalieren.

Doch als sie in Essert-sous-Champvent bei Yverdon eintrifft, ist es zu spät. Als sich der Geiselnehmer kurz von den Opfern distanziert, nutzt die Einsatzgruppe die Gelegenheit – und setzt der Tat mit einem Pistolenschuss ein Ende.

Auf Qadr B.s Instagram-Profil posten seine Bekannten weiter. Neben Beileidsbekundungen für seine Familie sind verschiedene Anschuldigungen an die Adresse der Schweizer Behörden zu lesen: «Sie haben diesen armen Mann zu Unrecht getötet», schreibt jemand. Ein anderer bezeichnet ihn als «unschuldig hingerichtet». Die Untersuchung der Waadtländer Staatsanwaltschaft dauert an.

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