Samstag, Februar 22

Die deutschen Boxfans warten seit 93 Jahren auf einen Weltmeister im Schwergewicht. Der neue Hoffnungsträger heisst Agit Kabayel – er schaffte den Aufstieg in die Weltelite gegen jede Wahrscheinlichkeit.

Auf den Gruppenfotos, die der Boxer Agit Kabayel nach dem Sparring im Düsseldorfer Gym in den sozialen Netzwerken gepostet hat, ist er immer der Kleinste unter lauter verschwitzten Riesen. Das ist kein Zufall. Seine Trainingspartner sollen wenigstens das gleiche Körpermass aufweisen wie der nächste Gegner, denn am Samstag steht der 32-jährige Schwergewichtler aus dem Ruhrgebiet nach eigener Einschätzung vor der «grössten Herausforderung» seiner Karriere.

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Das ist nicht bloss im übertragenen Sinne zu verstehen. Kabayel trifft im Ring einer Grossarena in Riad auf einen 41-jährigen Kontrahenten aus der Volksrepublik China, der ihm mit 1 Meter 98 sowie gut zweieinhalb Zentnern physisch klar überlegen ist.

Die Schläge zum Kopf von Zhilei Zhang, der im Olympiaturnier 2008 in Peking Silber gewann, muss Kabayel aber nicht nur etwas höher, sondern auch vorsichtig ansetzen. Denn der unbequeme Rechtsausleger mit dem Beinamen «Big Bang» kann schneller retournieren, als man vermuten würde. Zudem will Kabayel jene Treffer zum massigen Körper einstreuen, die ihm den inoffiziellen Titel des «Liver King» (Leberkönigs) eingebracht haben.

Gelingt ihm beides, könnte er zum Interims-Champion des World Boxing Council (WBC) avancieren. Mit der realistischen Aussicht, nach vierzehn wechselhaften Profijahren endlich um die Weltmeisterschaft zu boxen – als erster Deutscher seit dem Gelsenkirchener Francesco Pianeta, der 2013 gegen Wladimir Klitschko k. o. ging.

Der Coach erkannte sein eisernes Kämpferherz

Es wäre ein Aufstieg gegen jede Wahrscheinlichkeit. Der im Rheinland geborene Sohn kurdischer Einwanderer wurde nie als Ausnahmeerscheinung gehandelt. Als er 2011 Boxprofi wurde, hatte Kabayel nur Achtungserfolge als Kickboxer vorzuweisen; das letzte Feingefühl für technische Finessen ging ihm ab.

Dafür erkannte sein Trainer Sükrü Aksu das eiserne Kämpferherz in ihm, das ihn besonders macht. Aksu blieb seither stets an seiner Seite, als Trainer und «zweite Vaterfigur», wie Kabayel einst sagte, als Freund und Berater mit Prokura über sämtliche Finanzen. Dass sie chronisch unterschätzt wurden, schweisste die beiden nur noch mehr zusammen. Ebenso wie die Tatsache, dass die ganz grossen Kämpfe, die sie anstrebten, in Deutschland nicht mehr zu stemmen sind. «Es gibt genug gute Boxer hier», sagt Kabayel, «aber die Fernsehsender machen ihre Augen zu. Die haben keinen Bock mehr, Aufbauarbeit zu leisten.»

Die gemeinsame Reise führte die Aussenseiter nach Aachen und Beckum, Cuxhaven und Karlsruhe, Magdeburg und Novi Sad. Und wo immer sie hinkamen, war Kabayel siegreich – 2017 und 2023 wurde er jeweils Europameister. Das brachte ihn Ende 2023 erstmals nach Riad, dem neuen Eldorado des Box-Business. Hier sind dem 1 Meter 93 grossen Profi mit den imposanten Beinmuskeln (24 Kämpfe, 24 Siege) in zwei Vorstellungen Abbruchsiege gegen höher eingeschätzte Gegner geglückt – zuletzt gegen den Kubaner Frank Sánchez. Sie haben ihm in den Ranglisten von drei massgebenden Boxverbänden Top-6-Platzierungen eingebracht. Und «mehr Geld als zuvor in 22 Kämpfen», wie Kabayel sagt.

Das sind Rücklagen, die zwischen den Trainingseinheiten beruhigen. Sein Niveau muss er nun aber nochmals steigern: «Ich bin ein Typ, der immer neue Herausforderungen braucht. Ausserdem will ich ja wissen, ob ich da ganz oben wirklich hingehöre.»

So einen könnte der Boxsport in Deutschland gebrauchen. Mittlerweile ist es fast 93 Jahre her, dass die Ikone Max Schmeling seinen WM-Titel im Rückkampf an Jack Sharkey verlor. Seither sind alle, die sich zu seinen Erben aufschwingen wollten, knapp bis krachend gescheitert. So wie Karl Mildenberger, der gegen Muhammad Ali 1966 in Frankfurt immerhin elfeinhalb Runden durchhielt, der dreifache Herausforderer Axel Schulz oder Luan Krasniqi – ein Olympiadritter kosovarischer Herkunft, der vor zwanzig Jahren in Hamburg wie der Sieger aussah, bevor ihn der WBO-Champion Lamon Brewster in der neunten Runde entscheidend traf. Sie waren allesamt halbe Helden, die nur fast etwas Grosses losgetreten hätten.

Die Aufmerksamkeit in der Heimat lässt noch zu wünschen übrig

Ob Kabayel mehr auslösen kann? Die Resilienz und den enormen Willen dazu bringt der «Mann ohne Angst», wie ihn der Trainer Aksu bezeichnet, zweifelsfrei mit. Zudem hat er mit Frank Warren, einem der einflussreichsten Promoter in der Szene, vor kurzem eine Art Exklusivvertrag abgeschlossen. Der könnte ihm ab sofort besten Zugang zu den grössten und lukrativsten Kämpfen garantieren.

Nur die öffentliche Aufmerksamkeit in der Heimat lässt noch zu wünschen übrig. «Ich kriege extremen Support von der kurdischen Community», sagt Kabayel. «Aber das übrige Deutschland schläft noch ein bisschen. Da könnte ich ruhig noch etwas gepusht werden. Dann würden die Saudi merken, dass ein ganzes Land hinter mir steht.» Tatsächlich wäre es aufschlussreich zu erfahren, ob deutsche Box-Fans einem Agit im Erfolgsfall ebenso folgen würden wie einem Axel – sportlich hat Ersterer jedenfalls schon jetzt mehr erreicht.

Doch darum geht es in Riad einstweilen nicht. Dort muss Kabayel laut dem Trainer Aksu versuchen, im Ring «seine einzigen beiden Vorteile» gegenüber Zhilei Zhang auszuspielen: «sein Alter und seine Schnelligkeit». Erst nach dem allfälligen Erfolg wollen die unzertrennlichen Partner über die nächsten Schritte diskutieren. Die könnten sich als noch grössere Herausforderungen erweisen. Doch wie sagt Kabayel so gern: «Du kannst nur mit den Aufgaben wachsen, die dir gestellt werden. Deshalb freue ich mich drauf.»

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