Samstag, Oktober 5

Der Schweizer Beat Furrer gehört seit Jahrzehnten zu den wichtigsten Stimmen in der Gegenwartsmusik, im Dezember wird Furrer siebzig. Das Lucerne Festival ehrt ihn jetzt schon mit einer grossen Residenz und mit einer Reihe faszinierender Ur- und Erstaufführungen.

Manchmal ist der Besuch einer Probe erhellender als ein Konzert. Im Luzerner Theater sitzen morgens die Spezialisten von Klangforum Wien und Cantando Admont auf der kleinen Bühne. Sie proben Beat Furrers Musiktheater «Begehren», am Pult steht der Komponist selbst. Vor einem Monat erklang die konzertante Aufführung dieses Werks in der identischen Besetzung bereits bei den Salzburger Festspielen. Der riesige Raum der barocken Kollegienkirche verlieh Furrers Musiktheater einen beinahe sakralen Hauch – und durch den langen Nachhall etwas Ätherisches.

Das Luzerner Theater ist die totale Antithese zum Salzburger Luxus-Ambiente: ein kleiner, akustisch staubtrockener Saal, der sich für die Ausführenden vermutlich so anfühlt, als spiele und singe man in einen Kleiderschrank hinein. Deshalb muss auf der Probe in kürzester Zeit alles angepasst werden: die Lautstärke, die Balance, die Positionen auf dem Podium, die heiklen Übergänge. Der Mann am Mischpult hat alle Hände voll zu tun, alle paar Takte wendet Beat Furrer sich um, fragt sein Team, wie es im Saal klinge, bricht ab, korrigiert, wiederholt, wieder und wieder.

Wenn man die Aufführung in Salzburg erlebt hat, ist das Werk am Beginn der Luzerner Probe kaum wiederzuerkennen. Statt weich umschmeichelter Mischklänge sind scharf konturierte Einzelstimmen zu hören, die hochkomplexe Struktur steht plötzlich wie nackt da. Dann aber erlebt man staunend, wie das Werk ganz neu zusammengesetzt wird. Wie Details wieder in strömende Strukturen münden, wie die mikrotonale Textur trotzdem transparent bleibt und wieder leicht wird, wie Klänge funkeln und blitzen. Und wie ungeheuer fragil dieses Werk ist, wie entscheidend die Arbeit am Klang und an den diffizilen Hierarchien der Struktur.

Die Probe wird zu einer Schule des Hörens, die im folgenden Konzert reiche Früchte trägt: Das Werk rückt viel näher heran als in Salzburg, es bedrängt in neuer Unmittelbarkeit und bohrender Dringlichkeit, es überwältigt in seiner formalen Meisterschaft.

Atemlose Spannung

Beat Furrer erlebt es als wechselseitig inspirierend, sowohl in der Rolle als Komponist wie auch als Dirigent zu arbeiten. Als Dirigent eigener Werke wie hier bei seinem Musiktheater «Begehren» empfindet er durchaus eine Distanz zum eigenen Werk: «Sobald es erklingt, wird es zu etwas anderem», sagt er nach dem Konzert. «Begehren» erlebte seine Uraufführung 2003, das Stück reflektiert den «Orpheus»-Mythos. Die Protagonisten «Er» und «Sie» sind Archetypen, die exemplarisch alle Stadien gegenseitiger Nichterreichbarkeit, der Verzweiflung und eben des Begehrens durchleben.

Er habe «Begehren» selbst wieder neu entdecken müssen, gibt Furrer zu, und so könne er die Komposition heute nicht mehr wiederholen, vielleicht «anders lösen»; aber «ich habe da Dinge gewagt, die ich nicht bereue, eine Dramaturgie, die eine sehr radikale ist». In der Aufführung herrscht im Auditorium atemlose Spannung, die Aufführung bedeutet gegenüber der Probe einen weiteren, gewaltigen Qualitätssprung. Die Sopranistin Sarah Aristidou und der Sprecher Christoph Brunner zelebrieren Stimmexperimente zwischen singendem Geräusch-Atmen, wisperndem Sprechen, ins Unhörbare mündendem Flüstern bis hin zu gebieterischen Haltetönen in hoher Lage – und sie tun dies mit einer Selbstverständlichkeit, die keine technischen Probleme kennt und ihre Aufmerksamkeit einzig dem künstlerischen Ausdruck widmet.

Das Klangforum Wien spielt ohnehin in einer eigenen Klasse, es ist Furrers Ensemble: Er gründete es 1985, als er bereits zehn Jahre in Wien wirkte, weil es ihm im heimischen Schaffhausen zu eng geworden war. Die Gründung fiel in eine Aufbruchstimmung in der Donaustadt, Claudio Abbado prägte das Klima, das Festival «Wien Modern» ging erstmals über die Bühne, und Furrer trug mit Klangforum Wien seinerseits nicht wenig dazu bei, dass Wien bis heute eine Hauptstadt der Neuen Musik ist.

Verglichen mit der Akustik des Luzerner Theaters bietet die der Salle Blanche im KKL einen ungleich luxuriöseren Rahmen für die Uraufführung von Furrers jüngstem Werk, diesmal für grosses Orchester: «Lichtung» ist ein Auftragswerk im Rahmen der «Roche Commissions» für das 2021 gegründete Lucerne Festival Contemporary Orchestra. Sie steht am Beginn eines Programms, das ausserdem die Schweizer Erstaufführung des Trompetenkonzerts «Meduse. Elle et belle et elle rit» der schwedischen Komponistin Lisa Streich – wie Furrer dieses Jahr Composer-in-Residence in Luzern – sowie das Orchesterwerk «Coptic Light» von Morton Feldman umfasst.

Das Programm hat Furrer bewusst so konzipiert – ein geheimer Zusammenhang zwischen seiner soghaft sich verdichtenden Komposition und Feldmans rasendem Stillstand drängt sich auf. Lisa Streichs Trompetenkonzert wirkt dagegen zugänglicher, gestischer als die Musik ihrer Kollegen, und ihre unbekümmert voranschreitende, experimentierfreudige Musik mit dem fabelhaften Simon Höfele an der Trompete (und auf dem Gartenschlauch!) bildet eine ideale Mittelachse zwischen Furrers und Feldmans Tüfteleien.

Gewitzte Mogelpackung

Seine Arbeit sei stets ein «Denken in Klängen mit den Instrumenten der Vorstellung (des Klangs) und der Sprache, die diese Vorstellung beschreibt», hat Furrer zu Protokoll gegeben. Bei den Ensembles arbeite er an den Proben lieber mit Metaphern als mit knappen, technischen Parametern: «Wenn man sagt: ‹zu hoch›, ‹zu tief›, ‹leichter›, dann heisst es: ‹warum?›»

Poetisch lesen sich denn auch Furrers Beschreibungen zum neuen Orchesterwerk «Lichtung»: «Lichtbrechung oder ein Flimmern der Luft waren die Assoziationen zum ersten Klang», heisst es im Programmheft. Eine der Spielanweisungen in der Partitur lautet «flüsternd» – als gäbe es hier eine Brücke zum Sprechgesang des älteren Werks «Begehren»; doch nun flüstern und sirren die vielfach geteilten Streicher, während die Bläser mit schimmernden Lichtstreifen dem Klanggeschehen Richtung geben.

Allmählich kommen die statischen Klänge in Bewegung, es entsteht ein sich beschleunigender Puls, allmählich eine Struktur, die man als abstrakten, aber sehr haptischen Dialog hören kann. Ein Prozess, der sich nach einer ersten Steigerung und Beruhigung wiederholt, diesmal von einer unten liegenden Klangbasis aus, die Furrer als «tiefen, trägen Fluss» beschreibt. Die folgende Beschleunigung gerät steiler als die erste, ihre scharfen Kontraste entladen sich schliesslich wie ein Gewitter über dem Vierwaldstättersee. Der poetische Titel «Lichtung» erweist sich als eine gewitzte Mogelpackung, denn die letzten Momente des mit maximaler Spannung aufgeladenen Werks vermitteln eine Stimmung höchster Bedrängnis.

Komponieren sei für ihn ein Instrument der Welterfahrung, sagt Furrer, und dass es um diese Welt – abseits von kulinarischen Festival-Wonnen – nicht allzu gut bestellt ist, teilt sich hier sehr unmittelbar mit. Und das ganz ohne platte Aktualitätsbezüge oder eine sich letztlich doch immer nur anbiedernde Konkretion. Grosser Jubel für den bald siebzigjährigen Komponisten und das begeisternde Nachwuchs-Orchester der Luzerner Festival Academy. Am Ende möchte man Richard Wagners berühmten Imperativ «Kinder, schafft Neues!» hier glatt umdichten zu: «Kinder, hört Neues!»

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