Vor ungefähr zwanzig Jahren setzte der Karstweissling zu einem Feldzug an, der ihn durch die ganze Schweiz bis nach Norddeutschland brachte. Nun gibt es eine Erklärung für die rasante Ausbreitung des Tagfalters: die Urbanisierung.
Wo der Mensch Hand anlegt, verschwinden viele Lebensräume. Manchmal ergeben sich aber auch neue Chancen für Tiere und Pflanzen. Ein Profiteur ist der Karstweissling. Dieser Tagfalter, eng verwandt mit dem Kleinen und dem Grossen Kohlweissling, war ursprünglich auf der Alpennordseite nicht zu finden. Er galt als Art aus dem Mittelmeerraum, in der Schweiz kannte man bloss zerstreute Vorkommen im Tessin, im Wallis und in der Region Genf.
Vor ungefähr zwanzig Jahren aber überkam den kleinen Schmetterling offenbar die grosse Wanderlust. Er begann sich auszubreiten und drang immer mehr Richtung Norden vor. Im Juli 2008 fanden ihn passionierte Insektenforscher erstmals nördlich der Alpen im Berner Oberland – und bald überall in der Nordschweiz. Der Schmetterlingsspezialist Heiner Ziegler aus Chur schrieb damals in einem Forum: «Was im Moment mit dieser Art abgeht, ist wirklich der helle Wahnsinn. Ich bin überglücklich, auf meine alten Tage hin miterleben zu dürfen, wie sich eine derart seltene und begehrte Art fast explosionsartig in der Schweiz ausbreitet.»
Zwölf Jahre später hatte der Karstweissling bereits Hamburg und Schleswig-Holstein ganz im Norden Deutschlands erreicht. «Damit hat sich die Art mindestens 850 Kilometer nordwärts ausgebreitet – mit einem Tempo von 50 bis 100 Kilometern pro Jahr», sagt der Ökologe Daniel Berner, der als Privatdozent an der Universität Basel forscht. Berner untersucht mit seinem Team die Umstände der Invasion des Karstweisslings – und hat in einer kürzlich publizierten Studie die entscheidende Rolle hervorgehoben, die Gärten für diese Erfolgsgeschichte spielen.
Die Forschenden gingen in 20 Gemeinden in der Deutsch- und der Westschweiz auf die Suche nach dem Karstweissling – jeweils an einer Stelle innerhalb des Siedlungsraums und an einer Stelle ausserhalb der Dorf- oder Stadtgrenzen, typischerweise auf einer Wiese oder Weide. Die Unterschiede waren frappant. Innerhalb des Siedlungsgebiets fanden sich an 19 von 20 Orten Karstweisslinge, ausserhalb an keinem einzigen. Die Deutlichkeit habe ihn schon etwas überrascht, sagt Berner. «Es scheint, als habe sich der Karstweissling buchstäblich von Garten zu Garten ausgebreitet.»
Der Hauptgrund dafür ist wohl die Nahrungsvorliebe seiner Raupen. Nördlich der Alpen legt der Karstweissling seine Eier vor allem auf der Immergrünen Schleifenblume ab. Dieser aus dem Mittelmeergebiet stammende Bodendecker ist eine beliebte Gartenpflanze. Eine zweite Raupenpflanze ist die Rucola, die als Salat- und Gewürzpflanze in unsere Gärten geholt wurde. Zudem kommt der Karstweissling in seinem ursprünglichen Verbreitungsgebiet an von Wärme begünstigten, eher felsigen Standorten vor. Gärten könnten diesem Lebensraum nahekommen; gerade Schleifenblumen werden gerne dazu benutzt, um Mäuerchen oder Steinrabatten zu überdecken.
Bis zu sechs Generationen pro Jahr
Vielerorts ist der Karstweissling inzwischen der häufigste Schmetterling überhaupt. Auch bei Daniel Berner: Im Jahr 2022 fing er in seinem Garten in der Region Basel zwischen März und September 124 Exemplare, markierte sie und liess sie wieder fliegen. Auf diese Weise fand er heraus, dass die Art bei uns bis zu sechs Generationen pro Jahr entwickeln kann – ein weiterer Vorteil bei der Ausbreitung nach Norden, verglichen mit Arten, die nur eine Generation pro Jahr haben.
Einschleppungen, Ausbreitungen und Invasionen neuer Arten werfen stets die Frage auf, ob Schäden im neuen Lebensraum entstehen. Beim Karstweissling sind bis jetzt kaum negative Folgen bekannt. Da die Raupen sich nicht auf einheimischen Pflanzen entwickeln, konkurrenzieren sie keine anderen Schmetterlingsarten.
Allerdings, sagt Daniel Berner, könnten Beeinträchtigungen auch auf subtilere Weise ablaufen. So wird der Karstweissling von einer winzigen Erzwespe parasitiert. «Wenn nun Karstweisslinge in Gärten derart hohe Dichten erreichen, könnten sich auch die Erzwespen stark vermehren – und zu einer Bedrohung für andere Schmetterlinge werden.»
Invasion begann wohl im östlichen Frankreich
Ob das geschieht, weiss man heute allerdings nicht. Und auch sonst bleiben viele Fragen rund um den Karstweissling offen. Was hat den Tagfalter vor zwanzig Jahren dazu gebracht, sein ursprüngliches Verbreitungsareal zu verlassen? Und wo genau begann die Ausbreitung? Diesen Fragen gehen Berner und sein Team momentan nach.
Inzwischen haben sie das Erbgut von rund 700 Karstweisslingen bestimmt. Die Auswertungen laufen noch. Aber laut Berner zeichnet sich ab, dass die südeuropäische Herkunft relativiert werden muss. Laut ihm deuten die Daten darauf hin, dass die Karstweissling-Invasion im östlichen Frankreich begann, wo es bislang weitgehend übersehene Populationen gab.
Über die Initialzündung für die Ausbreitung lässt sich bis anhin nur spekulieren. Oft genannt wird die Klimaerwärmung. Doch daran glaubt Daniel Berner nicht. «Dafür ist das Ausbreitungstempo viel zu hoch – an der Nordsee herrschen heute trotz Klimaerwärmung keine Temperaturen wie in Südeuropa vor zwanzig Jahren.» Eine bessere Erklärung ist für ihn die zunehmende Urbanisierung. Vielleicht war schlicht und einfach die Gartendichte so gross geworden, dass sie dem Schmetterling erlaubte, sich auszubreiten – von Schleifenblume zu Schleifenblume.
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