Mit der Intendanz von Mathieu Bertholet beginnt am Zürcher Theater Neumarkt eine neue Ära. In «Die Stille» wird eine Familie durch Krankheit und Tod aus ihrem ritualisierten Alltag gerissen.
Wie geht man mit dem Tod um, wenn im Leben dafür kein Platz mehr ist? Das Leben ist in Schlaufen organisiert, es dreht sich in Rhythmen und Ritualen unter dem Himmel der Ewigkeit und über dem Abgrund des Nichts.
Grosse Worte, zugegeben. Sie kommen einem in den Sinn, während nun auch das Geschehen auf der Bühne des Theaters Neumarkt in Wiederholungen gefangen ist, die zunächst für Irritation und Spannung sorgen, bald aber auch für eine gewisse Leere. Ist das Minimal-Theater (Regie: Paula Lynn Breuer)? Ein Paar am Strand, David und Lydia; etwas weiter vorne auch vom Schriftsteller und Filmer Thomas in den Fokus genommen: Anna. Die Tochter, eine Schwester oder irgendwie beides. Man wird es bis zum Schluss nicht ganz verstehen.
Der Krebs weckt die Angst
Die vier Figuren sind in «Die Stille», einem Stück des französischen Schriftstellers Guillaume Poix, das die Ära des neuen Neumarkt-Intendanten Mathieu Bertholet einläutet, der ständigen Wiederholung zweier Lieder unterworfen. Wenn Juliette Grécos «Déshabillez-moi» ertönt, räkelt sich das Paar am Strand, während sich Anna vor der Kamera in Szene setzt oder David mit Sand bewirft. Dann wird das Chanson von einem lauten Techno-Track abgelöst, und die kleine Schar macht Party.
Erst mit der Zeit beginnen die vier auch zu sprechen; allerdings nur für kurze Zeit und in flüchtigen, inneren Monologen. So erfährt man immerhin, wie die Schauspieler David und Lydia sich gefunden haben. Und Anna spricht von ihrer Krankheit – trotz Therapie sei der Krebs nun wieder zurück.
Der Krebs bringt eine Todesangst in diese Lebensgemeinschaft, die die Schlaufe von Strand und Tanz nun allmählich aushebelt. Man spricht gar nicht mehr, und man gewöhnt sich an die Stille. Die Worte lenkten einen ab von der Trauer, erklärt Thomas; selbst die Gedanken schienen sinnlos. Die Gesichter der stummen Verwandten erstarren im Schrecken immer mehr zu Masken.
Und irgendwann hat sich das Stück in Bewegungstheater verwandelt oder in eine düstere Performance (laut Programm vom japanischen Butoh-Tanz inspiriert). In gebremsten Bewegungen und abgerissenen Gesten kämpft Anna gegen den Tod, während die Angehörigen mit ihrem Schicksal ringen. Es wird immer dunkler auf der Bühne, der Schatten verwandelt die Akteure in schemenhafte Gestalten. Und wenn das letzte Glühen schliesslich erlischt, scheint der Tod obsiegt zu haben.
Aber damit endet das Stück nicht. Es soll sich nicht in einer linearen Erzählung erschöpfen. Vielmehr führt nun ein Totentanz aus der Dunkelheit zurück in die lebendige Gegenwart. Lydia lobt ihre lebenslängliche Beziehung zu David, und die kranke Anna stellt sich abermals ihr eigenes Sterben vor.
Zuletzt aber wird eine jüngere Anna einen ganz andern Tod sterben. Thomas erzählt die Geschichte einer Familie, die einen windigen Herbsttag am Strand verbringt. Die Eltern versuchen in zärtlicher Zweisamkeit Ruhe zu finden, vergessen dabei aber ihre vierjährige Tochter Anna. Und prompt wird diese von der Brandung verschluckt.
Arbeit für den Kopf
Diese abschliessende Geschichte wird stimmungsvoll geschildert, sie setzt einen Höhepunkt an diesem verworrenen Theaterabend, der einem aus verschiedenen Gründen zu denken gibt. Zum einen dreht sich «Die Stille» tatsächlich um ein existenzielles Thema.
Vor allem aber muss der Kopf hart arbeiten, weil hier vieles unklar und unausgegoren wirkt. Es liegt auch an den unterschiedlichen theatralen Mitteln: Die Schauspielerinnen und Schauspieler (Rachel Braunschweig, Martin Butzke, Hanna Eichel, Till Schaffnit) sind durch die Kombination von Sprech- und Bewegungstheater überfordert. Einerseits fehlt es ihnen an Text, um den Figuren mehr Profil zu verleihen. Andrerseits mangelt es in den performanceartigen Szenen an physischer Ausstrahlung.

