Freitag, Oktober 18

Seine musikalische Kompetenz steht ausser Frage, seine menschenverachtenden Urteilssprüche in Casting-Shows sind mittlerweile aus der Mode gekommen. Jetzt wird der Pop-Titan siebzig.

Das waren noch Zeiten, als in Deutschland Autoritäten lebten, auf die man glaubte sich verlassen zu können. In der Politik sorgte Mutti für Ordnung. In der Literatur herrschte Papst Reich-Ranicki und im Fussball Kaiser Franz. Aus dem demokratischen Einerlei der Gegenwart mit sozialen Netzwerken, mit flachen Hierarchien und einem ständigen Gezänk hingegen ragt heute höchstens noch ein Titan heraus, der sogenannte Pop-Titan: Dieter Bohlen.

Auch Dieter Bohlen hat nun allerdings ein mythisches Alter erreicht. Fit, braun gebrannt wie eh und je, feiert er heute seinen siebzigsten Geburtstag. Wäre es da nicht an der Zeit, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen und sich auf den Lorbeeren auszuruhen? Die Casting-Shows haben ihren Zenit überschritten. Und sein gefälliges Pop-Repertoire klingt angestaubt im Vergleich zum eiskalten Deutsch-Rap der Gegenwart oder zum Breitwandschlager einer Helene Fischer.

Wie eine schwere, rostige Rüstung dürfte sich der Titel «Pop-Titan» im Alter allmählich anfühlen. Er war allerdings schon immer zwei, drei ironische Nummern zu gross für den burschikosen Germanen, der am 7. Februar 1954 im niedersächsischen Berne zur Welt kam, um Deutschland als Musiker, TV-Star und Zyniker dereinst das Fürchten zu lehren.

Songs für Deutschland

Seine Karriere nahm ihren Anfang mit friedlichen Klängen. Dieter Bohlens Talent zeigte sich rasch in Komposition und Produktion. Seit seiner Jugend schrieb er Schlager und Songs, er schüttelte sie förmlich aus seinen Ärmeln, um sie vor allem unter deutschen Künstlerinnen und Künstlern zu verticken.

Im Vergleich mit Produzentenkollegen wie dem jüngst verstorbenen Frank Farian, der die USA und Afrika eroberte mit seinen Hits, oder Giorgio Moroder, der die Pop-Ästhetik revolutionierte mit seinen Synthesizer-Experimenten, nimmt sich Bohlens musikalischer Palmarès etwas bescheidener aus. Immer wieder einmal aber kletterte einer seiner Songs in Deutschland, Österreich oder in der Schweiz die Charts empor. Er hatte offenbar ein besonderes Gespür für Schlagersängerinnen und verhalf so Andrea Berg oder Beatrice Egli zum grossen Durchbruch.

Wie viele seiner Songs für die Ewigkeit sind, das soll die Ewigkeit entscheiden. Mit einer Formation hat er zumindest deutsche Pop-Geschichte geschrieben: Modern Talking. Im Duo mit dem Sänger Thomas Anders versuchte es Bohlen erst mit deutschen Schlagern. Den Durchbruch schafften die beiden in den achtziger Jahren dann aber mit einer stilbildenden und eingängigen Verbindung von Schlager, Euro-Pop und Vokuhila-Chic. Man verdankt dem Duo Ohrwürmer wie «You’re My Heart, You’re My Soul» und «Cheri, Cheri Lady».

Fast ebenso eindrücklich wie die künstlerische Leistung ist rückblickend allerdings die Art und Weise, wie sich die beiden Musiker öffentlich stritten, anschwärzten, beleidigten. So manifestierte sich bereits der streitbare Charakter Dieter Bohlens, der in den nuller Jahren seine ganze Wucht und Macht entfalten konnte, als der Musikproduzent zum Juror der RTL-Casting-Show «Deutschland sucht den Superstar» («DSDS») avancierte. Aber was heisst schon Juror: Dieter Bohlen war Casting-Kläger, Casting-Richter, Casting-Henker.

Das Publikum hat sich jahrzehntelang ergötzt an den mit Anal- und Fäkalmetaphern angereicherten Sprüchen, mit denen Bohlen weniger begabte Kandidaten und Kandidatinnen abservierte. Gab es kein Mitleid für all die träumenden Seelen? Gab es keine Solidarität mit all den verzweifelten Visagen, mit den Bäuchen und Brüsten, mit den Waden und Ellbogen, die vor die Kameras drängten und – schlimmer noch – an die Mikrofone? Wenn sie dem Titanen nicht mehr zu bieten hatten als die eigene Unterwürfigkeit, dann stiess er sie genüsslich und gnadenlos in die Armseligkeit ihrer Anonymität zurück mit seinen medienwirksamen Beleidigungen.

Ironie gegen Brutalität

Der leicht ironische Titel des Titanen zeigt allerdings, dass Volkes Stimme die Härte seiner Aussagen etwas zu entschärfen suchte, indem sie den Mann nicht ganz so ernst nahm wie er sich selbst. Man zollte ihm Respekt, gleichzeitig machte man sich lustig über den hochtrabenden Egomanen und nahm seinen vernichtenden Urteilen etwas von ihrer letztinstanzlichen Gültigkeit. Die Opfer wussten, dass sie sich auf ein masochistisches Ritual einliessen und genossen ein paar Minuten zweifelhafter Berühmtheit. Die Zuschauer aber konnten sich Bohlens kompromissloser Kompetenz sowie seinem unflätigen Hohn hingeben wie einer reinigenden Therapie. Wer selber bloss ein Normalo war, lachte gerne über die Niederlagen der Möchtegern-Stars.

Bei den ersten Ausgaben von «DSDS» sass man manchmal zu zweit oder mit der ganzen Familie vor dem Fernseher, um sich das jüngste Pop-Gericht zu Gemüte zu führen. Die Kandidatinnen und Kandidaten schienen erstaunlich viel Mut an den Tag zu legen und einige auch Talent. Die jungen Frauen und Männer sangen dann alte und neue Klassiker wie «Angels», «I Will Always Love You» und «I Will Survive». Und zu Hause rang man sich schon einmal selbst zu einem provisorischen Urteil durch oder stritt über Grenzfälle.

Aber um zu wissen, wer richtig lag, musste man Bohlens Urteil abwarten. Der blonde Titan in seinen weichen Hoodies wurde links und rechts von sekundierenden Juroren oder Jurorinnen flankiert, die aber im Schatten des Meisters blieben, der letztlich keine Konkurrenz duldete. So mochten zuerst die Sekundanten etwas Nettes sagen oder etwas Kritisches. Spannend wurde es erst, wenn die Kamera in die Mitte schwenkte.

Nun blickte man direkt in die Mallorca-Bräune eines fleischigen Gesichts, wo unter blonden Fransen giftig-blaue Äuglein blitzten. Das eingefrorene Lächeln, das ein werbetaugliches Kukident-Gebiss offenbarte, zeigte keinen Anflug von Empathie oder Freundlichkeit und erst recht kein Zeichen von Selbstironie. Es blieb immer zynisch. Und mit teuflischer Verachtung liess der Titan einmal mehr sein Urteil verlauten.

Es fielen Sätze wie diese: «Das ist Darmverschluss, und das ist scheisse!» – «Bei mir kommen solche Geräusche aus anderen Öffnungen!» – «Ich kann nicht mal sagen, dass das scheisse war, das war schlechter!» Dieter Bohlen hatte stets auch seine Favoriten, für die er nicht nur lobende Worte fand, die er auch mit analytischer, mithin aufbauender Kritik förderte – so zeigte sich seine professionelle Kompetenz. Aber das Salz in der Suppe seiner Auftritte waren sein Sadismus und sein Sarkasmus.

Der Titan erntete viel Kritik für seine menschenverachtende Sprache. Der Jugendschutz führte ein Prüfverfahren gegen «DSDS». Stefan Raab, auch er ein Egomane und Zyniker, aber ein viel netterer Mensch, lancierte seine eigene, freundlichere Konkurrenz-Casting-Show.

Dass Bohlens Fäkal-Eloquenz bei seinen Fans bis heute Kultstatus geniesst und als eine Form von Ehrlichkeit gefeiert wird, hat dabei mit einem Wandel der sprachlichen Sensibilität zu tun. Im Zeichen digitaler Manipulation und politischer Korrektheit misstraute man immer mehr dem Ausgewogenen und Gekünstelten. Bohlens Stammtischsprüche und Verbalattacken gelten da hingegen als unverfälscht. Aber spricht der Mann tatsächlich, wie ihm der Schnabel gewachsen ist? Eher rezitiert er austauschbare Statements einer inszenierten Authentizität.

Orientierung im Chaos

Auch für den Erfolg Dieter Bohlens als titanischer Musikkritiker sind die Auswirkungen der digitalen Umbrüche entscheidend. Anfang der nuller Jahre steckte die Musikindustrie in einer tiefen Krise, weil durch die neuen Möglichkeiten von Download, Sharing und Streaming die CD-Verkäufe einbrachen. Durch das Internet wurden gleichzeitig auch die ehemaligen Gatekeeper der Pop-Szene entmachtet – von Musikzeitschriften bis hin zu MTV. Die Musik selbst hatte sich in diversen Retrowellen verfangen, die Jugend schien sich nicht in einem neuen Sound zu verwirklichen. Umso grösser die Chancen für einen Altstar wie Bohlen, dem Publikum im Chaos der Stile Orientierungshilfe zu bieten und zu erklären, was gut ist und was nicht.

Und gut ist, was sich verkaufen lässt. Alle weiteren Differenzierungen interessieren einen Dieter Bohlen kaum. Diese Pop-Ästhetik ist an sich wenig originell. Aber in ihrer Konsequenz beeindruckt sie das Publikum wie ein alttestamentarisches Verdikt: Vergesst das Wahre, Gute und Schöne; lasst alle Hoffnungen auf Selbstverwirklichung und Idealismus fahren! Ob Punk oder Schlager, Rock’n’Roll oder Hip-Hop – letztlich bestimmt der Markt musikalische Qualität.

Fast könnte man meinen, der Markt sei noch weiser als Dieter Bohlen. Aber der Titan weiss eben immer schon, welche Stimmen mit dem Appeal des Erfolgs gesegnet sind. Deshalb kann er die Menschen in zwei Gruppen teilen: Da die Winner – ihnen scheint der Himmel des Glamours versprochen. Da die Loser, die er mit seinem verbalen Nachtreten vor der Kamera rasch in die Hölle zu versenken sucht.

Heute sind die klassischen Casting-Shows aus der Mode gekommen. Die Härte eines Dieter Bohlen entspricht kaum mehr der Empfindlichkeit jüngerer Generationen. Es gibt dafür neue Musiksendungen und Formate wie «Sing meinen Song», in denen Stars sich gegenseitig ihre Hits vorsingen und alle ganz lieb zueinander sind. Vielleicht wäre das noch etwas auf die alten Tage hin: Dieter Bohlen bei «Sing meinen Song»! Was für eine Vorstellung: Der Titan liesse sich von Shirin David oder Loredana ein «Cheri, Cheri Lady» vorsingen, um die Rapperin dann begeistert und gerührt in seine Arme zu schliessen. Ganz Deutschland trüge eine Träne im Gesicht.

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