Sonntag, Oktober 6

Das Berufsleben orientiert sich an den Bedürfnissen des Frühaufstehers. Er dirigiert die anderen durchs Leben.

Das Leben eines Frühaufstehers muss herrlich sein. Es beginnt um drei, vier, fünf Uhr morgens – über allen Gipfeln ist Ruh’. Der Frühaufsteher geistert durch die Wohnung und blickt befriedigt zu den Nachbarhäusern: Nirgends brennt Licht, alle schlafen. Er ist der Einzige, der schon unterwegs ist und den Tag geniesst. Jede Stunde, die er früher aufsteht, gibt ihm mehr Vorsprung.

Wenn er später im Büro sitzt, wird er schon alle hinter sich gelassen haben, uneinholbar für den Rest des Tages. Er hat schon Sport gemacht, den ersten und den zweiten Kaffee getrunken, er hat die Zeitungen gelesen, Podcasts gehört, die Sitzungen vorbereitet. Ja, er hat auch schon E-Mails verschickt. Während er auf «Senden» drückt, weiss er, dass er den Takt vorgibt. Er agiert. Während die anderen reagieren werden müssen, wenn sie denn endlich aus dem Bett gekrochen sind. Er wird sie den ganzen Tag vor sich hertreiben.

Für den Frühaufsteher beginnt der Tag ganz anders. Die Strassen sind leer, wenn er zur Arbeit fährt. Keine Hektik, Zeit, aus dem Fenster zu schauen. Der Frühaufsteher erzählt gern: Er brauche diese Zeit, um zu sich zu kommen. Frühaufstehen ist Veranlagung und Philosophie zugleich. Auf seiner Jogging-Runde sieht der Frühaufsteher meistens ein Reh oder zumindest die Röte des neuen Tages. Magische Momente, sagt der Frühaufsteher, die man nur am frühen Morgen erlebe. Und als wäre das nicht genug, hat er am Morgen auch noch die besten Ideen. Ganz besonders unter der Dusche.

Langsame Hirne, zerknautschte Gesichter

Noch schöner ist nur die Begegnung mit den Kollegen bei der Arbeit. Viele wirken so, als seien sie in der Nacht von einem Zug überrollt worden. Sie bewegen sich zwar, aber sie scheinen in ihren Körpern zu schlafen. Der Frühaufsteher blickt in diese zerknautschten Gesichter – und fühlt sich noch wacher als zuvor. Er liebt Meetings um acht Uhr morgens und setzt sie gern auch noch früher an. Dann spürt er förmlich, wie langsam die Hirne der anderen denken, wie umständlich sie Worte suchen, so als würden sie zum ersten Mal ausgesprochen. Die Energie des Frühaufstehers gibt ihnen den Rest.

Home-Office und flexible Arbeitszeiten schienen das System des Frühaufstehers zu gefährden, ja, die ganze natürliche Ordnung drohte zusammenzufallen – da hat sich der Frühaufsteher berechtigte Sorgen gemacht. Aber mit der Zeit stellte er fest, dass sich doch nicht viel änderte. Die entscheidende Arbeitszeit ist weiterhin zwischen neun und siebzehn Uhr, vor allem auf den Ämtern. Und die Privatwirtschaft funktioniert kaum anders. Auch im Jahr 2024 wird weiter so gearbeitet, als wäre die Elektrizität nie erfunden worden, als wäre der Mensch für sein Werk immer noch auf das Tageslicht angewiesen.

Dann, wenn die Nachtmenschen allmählich ihre Vorteile ausspielen könnten, ist der Arbeitstag schon zu Ende. Schade für sie. Es mag ungerecht sein, denkt der Frühaufsteher, aber so ist es nun einmal. Biologie! Neurowissenschafter haben herausgefunden, dass die erregenden Nervenzellen bei manchen Menschen frühmorgens träge sind und bei anderen hochaktiv. Im Laufe des Tages wendet sich das Blatt. Aber eben, dann sind die Schalter schon geschlossen und die Frühaufsteher zu Hause.

Wach bleiben mit Stalin

Das Leben könnte auch ganz anders sein, das weiss der Frühaufsteher. Einmal hat er eine Biografie über Josef Stalin gelesen, die ihn fast nachdenklich gestimmt hat. Stalin schlief sehr lange, oft über den Mittag hinaus. Der innere Zirkel musste ihm bei nächtelangen Saufgelagen Gesellschaft leisten, Filme schauen, essen. Tanzen, wenn nötig. In Stalins Zirkel wäre er eine jämmerliche Figur gewesen, dachte der Frühaufsteher, der Abendveranstaltungen hasst.

Wer sich dem Diktat der Frühaufsteher entziehen will, muss Künstler werden. Marcel Proust schrieb «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit» über Nacht, liegend im Bett. Am Morgen schlief er, am Nachmittag rauchte er Opium. Heute ist er ein gefeierter Schriftsteller. Sein Fall zeigt: Die morgendliche Effizienz verliert im Rückblick an Bedeutung. In der Gegenwart geben die Frühaufsteher aber den Takt vor.

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