Chimamanda Ngozi Adichie schreibt in ihrem Roman «Dream Count» über «jene Sorte Schmerz, die nur Frauen vorbehalten ist». Das ist lustig und scharfsinnig, und gerade wenn man denkt, ein sanftes Buch in Händen zu halten, lässt Adichie die Bombe platzen.
Die neunziger Jahre hatten gerade begonnen, und die nigerianische Autorin Chimamanda Ngozi Adichie war vierzehn Jahre alt, als ihr bester Freund das Problem zum ersten Mal beim Namen nannte. Er schaute sie ernst an und sagte: «Dir ist schon klar, dass du eine Feministin bist?»
Obwohl Adichie zu Hause im Wörterbuch nachschlagen musste, was eine Feministin überhaupt ist, war ihr doch sofort klar: Ein Kompliment konnte das nicht sein. Diese Mischung aus Vorwurf und Warnung in seinem Ton – der Freund hätte genauso gut feststellen können: «Du unterstützt Terroristen.» So erzählt es Adichie im Frühjahr 2013 in einem TED-Talk mit dem Titel «Wir sollten alle Feministen sein». Feministen, so las Adichie im Wörterbuch, sind Menschen, die gleiche Rechte, gleichen Respekt und gleiche Chancen für alle wollen.
Die Wunden der Welt
2013 erschien neben dem Monolog zum Feminismus auch «Americanah», Adichies Roman über eine nigerianische Bloggerin, die erst in den USA begreift, was ihr Schwarzsein und ihr Frausein in der westlichen Welt bedeuten.
Nachdem Adichie mit ihrem Roman erste Preise gewonnen hatte, riet ihr ein Mann ungefragt, das Buch künftig besser nicht mehr als «feministischen Roman» zu verkaufen. Denn Feministinnen seien, wie alle wüssten, unglückliche Frauen, die keinen Ehemann gefunden hätten.
Adichie schlug den Rat in den Wind und wurde mit dem Roman zum internationalen Literaturstar. Nun, zwölf Jahre und drei Kinder später, erschien weltweit zur gleichen Zeit ihr nächster Roman. «Dream Count» ist vieles, aber vor allem das: ebenso feministisch wie versöhnlich. Ein Buch wie ein Pflaster auf die Wunden der Welt.
Tote Träume
«Ich habe mich immer danach gesehnt, von einem anderen Menschen erkannt zu werden, wirklich erkannt.» Mit diesem Satz beginnt Adichie ihren Roman und die Geschichte von Chiamaka, der ersten ihrer vier Protagonistinnen.
Chiamaka versinkt in Gedanken und fischt nach Vergangenem. Gleiches tun auch ihre beste Freundin Zikora, ihre Haushälterin Kadiatou und ihre liebste Cousine Omelogor. Sie alle sind um die vierzig Jahre alt, leben zwischen der afrikanischen Heimat und den USA, und gerade haben sie alle auch viel Zeit: Das Coronavirus rast um die Welt. Wie ein Dominostein fällt ihm ein Land ums andere zum Opfer.
Während die Geschäfte und Restaurants schliessen, öffnen die vier Frauen, jede für sich, ihren «Dream Count». Ihre Erinnerungen an all die Dinge, die hätten sein können in ihrem Leben.
Es geht um Karrieren und Beziehungen, die nicht gelungen sind oder nicht genügten. Um Sex und Glück, die Beschaffenheit von Freundschaften und das Unterscheiden zwischen eigenen Ambitionen und äusseren Erwartungen. Um die Frage auch, ob ein Frauenleben durch Mutterschaft komplett oder nur kompliziert wird. Und gerade wenn man denkt, ein sanftes Buch aus mal fliessenden Dialogen und mal wabernden Wünschen in Händen zu halten, lässt Adichie die Bombe platzen.
Zimmer 2806
Kadiatou träumt nur von erreichbaren Dingen. Als sie mithilfe ihrer – leider kriminellen – Jugendliebe Amadou in die Vereinigten Staaten von Amerika kommt, scheinen plötzlich Sicherheit, ein bisschen Wohlstand und eine Zukunft für ihre Tochter Binta zu diesen Dingen zu gehören. Das ist neu. Bisher kannte Kadiatou vor allem das Unglück.
Den Vater verlor sie bereits als Kind – er starb beim Einsturz einer guineischen Goldmine. Die grosse Schwester, Vorbild und Schutzschild, verlor sie als Teenager – sie wachte nach einer Operation an ihrer Gebärmutter nicht mehr auf. Die Schwester hatte wohl Endometriose, operiert wurde sie, damit sie dem für sie ausgesuchten Ehemann Kinder gebären konnte. Den Sohn verlor sie kurz nach der Geburt; den alkoholabhängigen Ehemann, den sie nie geliebt hat, noch vor der Geburt der Tochter. Zwischen den Verlusten wurde Kadiatou beschnitten und sexuell missbraucht.
In Amerika wird Kadiatou Zimmermädchen in einem Luxushotel in Washington DC. Und klopft irgendwann an die Tür von Zimmer 2806.
Niemand reagiert. Als sie die Tür aufstösst, kommt ihr ein nackter, alter, weisser Franzose entgegen. Ein mächtiger Mann, wird es später heissen. Er stösst die Zimmertür hinter ihr zu und zwingt ihr seinen harten Penis in den Mund. «Kein Zögern hatte in seiner Achtlosigkeit gelegen, kein Anzeichen eines Gewissens. Aber Kadiatou war kein Objekt. Sie war eine Frau.»
Nach dem Übergriff stolpert Kadiatou aus dem Zimmer und in die Mühlen der amerikanischen Rechtsprechung. Der Mann wird festgenommen, doch die Staatsanwaltschaft rückt Kadiatou zu Leibe, um den Prozess gegen den mächtigen Mann ganz sicher zu gewinnen, und die Medien zerfleischen das Zimmermädchen mit dem schlechten Englisch.
Der Fall Dominique Strauss-Kahn
Schliesslich wird Kadiatou die Tatsache, dass sie bei ihrem Asylgesuch in den USA beinahe gelogen hätte, zum Verhängnis. Es kommt nicht zum Prozess. «Sie haben gesagt, es gäbe zwingende Beweise, die ihre Version der Ereignisse stützen, aber weil sie nicht ehrlich und offen über ihre Vergangenheit gesprochen hat, könnten sie ihr nicht vertrauen und glauben vor allem nicht, dass eine Jury es täte.»
Ein einflussreicher Franzose, der in Washington ein Zimmermädchen aus Guinea missbraucht – es ist Adichies literarische Verarbeitung eines realen Falls. 2011 beschuldigte Nafissatou Diallo, ein Zimmermädchen aus Guinea, den damaligen IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn des sexuellen Übergriffs. Obwohl kaum Zweifel an der Wahrheit ihres Vorwurfs bestanden, kam es nicht zum Prozess: Diallo hatte bei ihrem Asylgesuch in den USA gelogen, um einreisen zu können. Damit hatte sie in den Augen der amerikanischen Staatsanwaltschaft ihre Chance auf juristische Gerechtigkeit verspielt.
Auf Wunsch des Verlags, der sich gegen etwaige Klagen absichern wollte, schrieb Adichie einige Zeilen zu der realen Vorlage ihrer fiktiven Figur. Sie kenne Diallo nicht und wisse über sie nur, was in den Zeitungen zu lesen gewesen sei. Aber eines stehe fest: «Ein Opfer muss nicht perfekt sein, um Gerechtigkeit zu verdienen.»
Perspektiven und Privilegien
Adichie, die in Essays und Reden stets für das Einnehmen anderer Perspektiven plädiert, für den Versuch zu verstehen, was andere Menschen formt, einschränkt und antreibt, erzählt ihre Geschichte nacheinander aus vier Blickwinkeln. Diese Berichte laufen unabhängig voneinander, wo es auch die Leben der Protagonistinnen tun, und überlappen sich, wenn die Frauen gemeinsame Erinnerungen schaffen. So werden die Ereignisse, etwa um Kadiatous Prozess, von Geschichte zu Geschichte reicher und plastischer.
Zikora, vom Vater ihres Kindes verlassen, sieht vor allem das Schlechte in den beteiligten Männern. Selbst Kadiatous Anwalt traut sie nur bedingt. Chia, die Schmerz und Konflikte kaum aushält, macht sich Sorgen um Kadiatous Psyche und die Beziehung zu Tochter Binta, die unter dem Druck ebenso leidet wie ihre Mutter. Omelogor, stolz auf ihre afrikanischen Wurzeln und besonders der westlichen Linken gegenüber kritisch, erkennt im Umgang der Polizei, der Medien und der Staatsanwaltschaft mit Kadiatous Migrationshintergrund den oft nur dürftig verschleierten Rassismus und die Scheinheiligkeit der amerikanischen Elite.
Kadiatou selbst ist vor Angst wie gelähmt. Nicht nur darin unterscheidet sie sich als Figur signifikant von den übrigen Protagonistinnen, die ihre Mitstreiterinnen und Fürsprecherinnen werden. Chia, Zikora und Omelogor gehören der gut gebildeten und finanziell abgesicherten nigerianischen Oberschicht an.
Doch sosehr ihre Privilegien sie von Kadiatous Welt trennen, der Mitstreiterinnenschaft zum Trotz, so sehr machen sie sie für eine westlich sozialisierte Leserschaft fassbar. Wenn Zikora sagt, Glück, das sei die dritte Person Plural, Omelogor hinterfragt, ob sie ihre selbstgewählte Kinderlosigkeit je bereuen werde, und Chia vom Erfolg als Reiseschriftstellerin träumt, dann sind die Türen der Nachvollziehbarkeit weit offen.
Gleichzeitig lässt Adichie die Verbindung in eine afrikanische und besonders nigerianische Realität auf keiner Ebene abreissen. Als Chia sich darüber beklagt, dass sie einfach nur ein witziges Buch über das Reisen mit einem nigerianischen Pass schreiben wolle, die Verlage von ihr aber Erfahrungsberichte über Unterdrückung und Genitalverstümmelung erwarteten, antwortet ihr Freund: «Das Problem ist, dass viele dieser weissen Leute nicht verstehen, dass auch wir träumen.»
In ihrem TED-Talk vor zwölf Jahren sagte Adichie, sie habe sich erst Feministin, dann «glückliche Feministin» und schliesslich «glückliche afrikanische Feministin» genannt. Mit «Dream Count» stellt sie erneut unter Beweis, dass sie vor allem eines ist: eine talentierte Frau.
Chimamanda Ngozi Adichie: Dream Count. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jan Schönherr und Asal Dardan. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2025. 528 S., zirka Fr. 33.–.