Mittwoch, Oktober 30

Die Schweiz und der Instagram-Tourismus: Der Kessel des Creux-du-Van im Kanton Neuenburg ist ein Foto-Hotspot. Doch er forderte schon mehrere Menschenleben.

Der Creux-du-Van wird wegen seiner tiefen Schlucht auch als «Grand Canyon der Schweiz» bezeichnet. Der Talkessel liegt oberhalb des Val-de-Travers, auf der Grenze der Kantone Neuenburg und Waadt. Die Wanderung dorthin ist eine Leichtigkeit. Vom Bahnhof Noiraigue aus dauert sie drei Stunden. Der Spaziergang vom Parkplatz aus dauert fünf Minuten.

Der Creux-du-Van ist ein Tourismus-Hotspot. Jährlich kommen 100 000 Besucher. Influencer, Familien, Hobbyfotografen. Oftmals angelockt von den Bildern auf Instagram. Hier oben ist die Natur ein Spektakel. Der Creux-du-Van hat die Form eines Hufeisens, ist vier Kilometer lang und einen Kilometer breit. Dazwischen geht es 160 Meter senkrecht in die Tiefe.

Auf dem Creux-du-Van herrscht schweizerische Bergidylle. Familien in Wanderausrüstung, Sicht auf die Walliser Alpen, abgeknabberte Karotten in der Wiese. Und doch strahlt der Ort eine eigenartige Atmosphäre aus. Sie ist geprägt von der Gefahr der Klippen. Und von der Gewissheit, dass hier schon mehrere Menschen zu Tode gestürzt sind.

Die tiefen Klippen – eine Gefahr für die Touristen

An diesem Mittwoch im August wimmelt es am Creux-du-Van von Familien. Eine Zürcher Familie ist angekommen. Der Vater rennt mit seinem Smartphone in der Hand auf die Klippen zu und stoppt erst kurz vor der Kante. Die Mutter folgt ihm: «Schwindelerregend! Hier geht es senkrecht runter!» Auch die beiden Töchter zögern.

Der Vater lässt Angst als Ausrede nicht gelten. Für das Familienfoto bittet er Mutter und Töchter zur Klippe, dann knipst er. «Das Foto ist super», lobt er sich selbst. Nur die Mutter gucke etwas komisch. Sie sagt: «Ich bin halt ein Schisser.»

Der Wanderweg oben auf dem Creux-du-Van führt in sicherer Distanz der Klippe entlang. Dass hier trotzdem fast alle Leute nahe an den Abgrund gehen, liegt an der Aussicht. Sie ist der Grund, weshalb die Leute überhaupt hierherkommen. An schönen Sommertagen stehen die Leute Schlange, um sich an den besten Stellen abzulichten. Dabei liegt zwischen einem guten Foto und dem Tod manchmal ein einziger Misstritt.

Vor vier Jahren stürzte am Creux-du-Van ein 35-jähriger Mann von einem Felsvorsprung ab. Der Man sei in den Tod gestürzt, weil er ein Selfie machen wollte, hiess es. Die Freundin habe noch versucht, nach ihm zu greifen.

Die Unfallstelle ist für Selfies beliebt. Die Sicht auf den Creux-du-Van ist von diesem Felsen aus besonders «instagrammable». Wer den aufregendsten Beitrag auf Instagram, Tiktok und Co. posten möchte, setzt sich hierhin.

Der Schweizer Social-Media-Star Aditotoro veröffentlichte auf Tiktok ein Jahr nach dem tödlichen Unfall ein Video für Schweiz Tourismus. Darin springt er an derselben Stelle vom oberen Felsvorsprung auf einen unteren. Auf dem Video sieht es aus, als würde er in die Schlucht springen. Er schreibt dazu: «Bitte nicht nachmachen.» Damals folgten Aditotoro auf Tiktok 400 000 Personen. Heute sind es 2,4 Millionen.

Zum Schweizer Fernsehen SRF sagte er: «Ich kann nicht alles verhindern, ich kann nur hinschreiben, dass andere das nicht nachmachen sollen. Oder ich poste es nicht. Aber die Leute wollen ja auch solche Dinge sehen. Ich muss eine gesunde Mischung finden.»

Tod beim Fotografieren

Das Phänomen «Tod aufgrund eines Selfies» gibt es weltweit. 2018 hat eine Studie ergeben, dass zwischen 2011 und 2017 weltweit 259 Personen beim Selfiemachen gestorben sind. Die meisten Fälle passierten in Indien, Russland und den USA. Die Ursachen waren Zugunfälle, Ertrinken, Schusswaffen und Stürze. Es gibt gar einen Wikipedia-Eintrag. Die Autoren führen darin eine unvollständige Liste tödlicher Selfie-Unfälle.

USA, 2015: Ein Mann wollte auf dem Bahngleis ein Selfie vor einem vorbeifahrenden Amtrak-Zug machen. Der Mann schätzte falsch ein, auf welchem Gleis sich der entgegenkommende Zug befand.

Italien, 2022: Eine Frau wurde an der Amalfiküste beim Fotografieren von einer Welle erwischt. Die Welle schleuderte sie zu Boden, wo sie mit dem Kopf gegen die Felsen schlug.

An diesem Sommertag im August sind es nicht die mutigen Youtuber oder coolen Tiktoker, die dem Abgrund nahe stehen. Es sind die Familienväter. Einer hat gerade sein Smartphone in die Hosentasche gesteckt, als er merkt, dass er weiter vorne ein noch besseres Bild machen könnte. Die Tochter ruft ihm zu: «Nicht runterfallen!» Doch sie kann ihn nicht aufhalten.

Der Vater scherzt, dass dann auch der Autoschlüssel weg wäre, und läuft rückwärts Richtung Abgrund. Er zückt die Kamera und freut sich wie ein kleines Kind. Er will seine Tochter fotografieren, die über ihm auf dem höheren Felsen steht. Der Vater steht genau dort, wo 2019 ein Mann tödlich verunglückte. Später gesellt sich auch die Tochter zu ihm. Die Mutter sitzt weiter oben und bearbeitet auf dem Smartphone die Fotos, die sie zuvor gemacht hat.

Entlang des Creux-du-Van stehen keine Schilder, die vor den tiefen Klippen warnen. Es gibt keine Absperrungen, die Touristen daran hindern, zu nah an den Abgrund zu stehen. Am Creux-du-Van wandern Touristen auf eigenes Risiko. Es ist die raue, bedrohliche Natur, die sie anlockt. Und die Lust auf das perfekte Bild.

Es ist, als gerieten die Besucher am Creux-du-Van in einen Rausch. Sie fotografieren, posieren, getrauen sich Meter um Meter näher an den Abgrund heran. Später schicken sie ihre Bilder an Freundinnen, posten sie auf Instagram und erhoffen sich vor allem Lob und Likes. Alle sprechen darüber, wie gefährlich der Ort ist, aber niemanden scheint es zu kümmern.

Der Selfie-Unfall war nicht der einzige Todesfall am Creux-du-Van. Im Jahr 2015 sprang ein Vater mit seinen zwei Kindern – sie waren zwei und drei Jahre alt – am Creux-du-Van in die Tiefe. Ermittler fanden später einen Abschiedsbrief. Sieben Jahre später beging eine Mutter Suizid am Creux-du-Van, auch sie sprang mit ihren zwei Kindern im Alter von zwei und vier Jahren in den Kessel. Hinweise der Dargebotenen Hand, wie sie oft an Brücken angebracht werden, fehlen trotzdem. Netze, Gitter oder andere Absperrungen ebenso.

Der Creux-du-Van liegt im gleichnamigen Naturschutzgebiet, auf 15,5 Quadratkilometern leben hier Steinböcke, Gemsen, Auerhähne und Luchse. Ein Schild mit Symbolen weist auf die Verhaltensregeln hin. So sollen Besucher keine Schnecken, Frösche, Schmetterlinge oder Blumen sammeln. Zudem sollen es Besucher unterlassen, Schlangen mit Holzstöcken zu stören. Seit wenigen Jahren ist ein Abschnitt des Wanderweges entlang der Klippe gesperrt – damit sich die Flora erholen kann.

Der Schutz am Creux-du-Van gilt der Natur. Der Mensch muss auf sich selbst aufpassen.


Die Schweiz und ihre Instagram-Hotspots

Der Schweizer Tourismus hat sich in den vergangenen Jahren durch die sozialen Netzwerke verändert. Nicht nur zum Guten. Was haben Instagram, Tiktok und Co. mit den schönsten Orten des Landes gemacht? Wer profitiert, und wer verliert? Und kann es ewig so weitergehen mit der Inszenierung der Natur?

Exit mobile version