Sonntag, September 8

Gerhard Pfister beklagt einen Vertrauensverlust zwischen der Wirtschaft und dem Schweizer Wahlvolk. Der Parteipräsident der Mitte warnt zugleich vor einseitigen Schuldzuschreibungen.

«Die Schweiz ist nicht einfach ein Business-Hub, sondern ein Business-Hub mit direkter Demokratie», sagt Gerhard Pfister. Für den Nationalrat und Parteipräsidenten der Mitte ist dieser Satz keine banale Feststellung, sondern das Erfolgsrezept der Schweiz, wie er in «NZZ Standpunkte» erklärt. Pfister betont: «Die Schweiz ist auch deshalb ein hervorragender Handels- und Wirtschaftsplatz, weil wir die direkte Demokratie haben.»

Denn auf der einen Seite habe das Stimmvolk alle drei Monate die Gelegenheit, sich zu Sachthemen zu äussern und so nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft zu kritisieren und in gewissem Masse zu kontrollieren. Insbesondere die prominentesten Vertreter der Wirtschaft hätten wiederum gelernt, für die eigene Sache beim Volk zu werben und seine Anliegen bei ihren Entscheidungen einzubeziehen.

«Die direkte Demokratie ist keine Einbahnstrasse, wo das Volk etwas abnickt, sondern wo man im ständigen Dialog mit der Bevölkerung sein muss, damit die Anliegen der Wirtschaft verstanden werden, Akzeptanz finden und nicht konterkariert werden», so Pfister.

Dieses Wechselspiel zwischen Wirtschaft und Bevölkerung habe dafür gesorgt, dass während Jahrzehnten gegenseitiges Vertrauen aufgebaut worden sei. «Das persönliche Commitment von Top-Managern und Top-Unternehmern für die gesellschaftliche Diskussion ist ein unabdingbares Erfolgsrezept für den Zusammenhalt gewesen.»

Vorherige Generationen hätten grosse Akzeptanz für wirtschaftspolitische Fragen gehabt. Nun stehe dieses Vertrauen auf dem Spiel. «Der Gesellschaftsvertrag zwischen Exponenten der grossen Konzerne und der Bevölkerung hat Erosionserscheinungen», sagt Pfister. Denn die Voraussetzungen hätten sich seit der Jahrtausendwende geändert. In mehrerer Hinsicht und auf beiden Seiten.

«Die Menschen sehen, dass die Top-Manager nur deshalb in der Schweiz sind, weil ihr Konzern zufälligerweise in der Schweiz steht»

«Die Top-Positionen in grossen Konzernen sind immer mehr mit internationalen Personen aufgefüllt», so Pfister. «Und die Menschen sehen, dass diese Personen nur deshalb in der Schweiz sind, weil ihr Konzern zufälligerweise in der Schweiz steht.»

Gesichtslose Manager also, die sich der Eigenheiten des Schweizer Sonderwegs nicht bewusst seien und es in Kauf nähmen, dass Teile der Wirtschaft und die Gesellschaft immer weiter auseinanderdrifteten. Der Dialog mit der Bevölkerung werde nunmehr «den Verantwortlichen für Public Affairs» überlassen – Schweizern zwar, doch sei dies kein angemessener Ersatz.

Hinzu kommen grundsätzliche Veränderungen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten mehrere Generationen in Europa und auch in der Schweiz sich durch Arbeit und Leistung gesellschaftliches Ansehen verdienen können. «Sie konnten darauf vertrauen, dass man es mit Eigeninitiative, Fleiss und anderen Tugenden weit bringen konnte», sagt Pfister. Diese gesellschaftliche Durchlässigkeit durch Arbeit nehme seit geraumer Zeit stetig ab.

Gleichzeitig empfänden die Menschen die Globalisierung nicht mehr als nur positiv für alle. Die Finanzkrisen hätten dazu beigetragen. Aber auch die Tatsache, dass ein hochentwickeltes Land mit hohen Arbeitskosten wie die Schweiz im globalen Wettbewerb oftmals einen schweren Stand habe. «Es wird überall nur dort produziert, wo es am günstigsten ist.»

«Wenn wir überregulieren, sägen wir am Erfolgsrezept der Schweiz»

Diese und weitere Faktoren hätten dazu geführt, dass die Schweizer heute nicht mehr ein so bedingungslos grosses Selbstvertrauen hätten, nicht mehr darauf vertrauen könnten, dass sie mit Eigenverantwortung weit kommen würden. Eigenverantwortung als oberstes gesellschaftliches Prinzip der Schweiz sei inzwischen nurmehr für eine Elite zutreffend.

An seine Stelle rücke mehr und mehr die öffentliche Hand. Der Staat sei nicht mehr der Dämon, den man früher im Namen der Freiheit beschworen habe. «Die grosse Mehrheit der Menschen hat erkannt, dass der Staat ganz wichtige Aufgaben erfüllt», sagt Pfister. Inzwischen nehme sogar «eine gewisse Anspruchshaltung» zu.

Tatsächlich habe der Staat bei den jüngsten Krisen – etwa in der Pandemie oder bei der Rettung der Credit Suisse – einen guten Job gemacht: «Ohne Staatsintervention wäre die Schweiz nicht so gut über die Runden gekommen», sagt Pfister. Doch bestehe kein Zweifel daran, dass auch in Zukunft der politische Kurs eine klare Richtung brauche: «Wenn wir überregulieren, sägen wir am Erfolgsrezept der Schweiz.»

Allerdings mache man es sich zu einfach, wenn bloss von der Bevölkerung eine Rückkehr zu alten Verhaltens- und Abstimmungsmustern verlangt werde. Das Vertrauen in die Entscheidungsträger sei «nicht etwas, das man ordnungspolitisch regulieren kann. Sondern etwas, das sich in der direkten Demokratie äussert – oder eben nicht.»

Je höher der Posten, desto grösser die Verantwortung

Deshalb müsse sich die Wirtschaft an der eigenen Nase fassen. Es sei dringend notwendig, dass vor allem die Manager grosser Konzerne sich ihrer Vorbildrolle bewusst würden – und ihrerseits bewährte Tugenden wieder pflegten. Dabei gelte: je höher der Posten, desto grösser die Verantwortung.

Wenn zum Beispiel Manager hohe Gehälter mitnähmen, die ihnen rein rechtlich zustünden, sie aber nicht auch politisch mitdächten und reagierten, indem sie «zum Beispiel einen Teil solcher Gelder zurückgeben, muss man sich nicht wundern, wenn die Bevölkerung sie abstraft».

Pfister glaubt aber weiter an das Schweizer Erfolgsmodell – und daran, dass die Bevölkerung auch heute sehr wohl überlegt, was sie will und wofür sie stimmt. «Das Wunder der direkten Demokratie ist: Die kollektiven Entscheidungen sind sehr rational.»

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