Achtzigjährig war die italienische Autorin Dolores Prato, als sie ihren monumentalen Roman schrieb. Nun erscheint das grandiose Buch erstmals in deutscher Übersetzung.
Was für eine Geschichte dieses Buch hat! Und was für ein Glück, dass es nun erstmals auf Deutsch vorliegt! Dolores Prato, 1892 als uneheliches Kind in Rom geboren, kam als Säugling zu Pflegeeltern, dann in ein Internat, arbeitete als Lehrerin und Journalistin, ehe sie als Siebzigjährige erste Bücher publizierte.
1973, also mit Anfang achtzig, begann sie mit der Arbeit an ihrem monumentalen Hauptwerk «Unten auf der Piazza ist niemand», das fünf Jahre später vom Turiner Einaudi-Verlag freudig angenommen wurde. Mit einem Haken: Pratos Lektorin, die Schriftstellerin Natalia Ginzburg, war voller Bewunderung, hielt den Text in der vorliegenden Form jedoch für nicht publizierbar.
Folglich griff Ginzburg kräftig ein und kürzte das Manuskript – man mag es kaum glauben – um zwei Drittel. So erschien der gestutzte Roman, wohl mit zähneknirschender Zustimmung der Autorin, 1980, drei Jahre vor deren Tod. Erst 1997 wurde die ungekürzte Fassung veröffentlicht. Sie ist Grundlage für die nun erschienene deutsche Ausgabe.
Untergegangener Kosmos
Die knapp eintausend Seiten sind ein Solitär innerhalb der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Man darf sich, wie Esther Kinsky in ihrem Nachwort schreibt, bei der Lektüre hier und da an Adalbert Stifter, Pasolini oder Peter Kurzeck erinnert fühlen – und wohl auch an Marcel Proust und seine Evokation verlorener Kinderwelten.
Doch Pratos Werk braucht sich nicht an den Kollegen messen zu lassen; es ist von klarer Eigenständigkeit und überwältigt von der ersten Seite an mit seinem Bestreben, einen untergegangenen Kosmos in allen Facetten heraufzubeschwören und gleichsam zu neuem Leben zu erwecken.
Die Ich-Erzählerin Dolores taucht ein in die mittelitalienische, in den Marken gelegene Gemeinde Treja (heute: Treia), wo die Autorin selbst aufwuchs, nachdem ihre Mutter – vom Vater ist nie die Rede – nichts mit ihr hatte zu tun haben wollen. «Ich hatte schon graues Haar, als ich erfuhr, wo genau auf dem riesigen Ager romanus ich als wenige Tage altes Kind abgelegt worden war: als kleines Bündel, das man einer Bäuerin aus der stillen Umgebung von Sezze anvertraut hatte, ausgerechnet an jenem Ort, wo die Passion Christi samt allen Marterwerkzeugen, die ich in der Passionsblume wiederfand, bis zum heutigen Tag aufgeführt wird.»
Das «verschmähte Findelkind» findet Unterschlupf bei einem älteren Paar von Geschwistern, die Onkel und Tante genannt werden. Überfordert von den plötzlich auf sie zukommenden pädagogischen Pflichten, gehen die Pflegeeltern lieber ihren eigenen Neigungen nach: Onkel Zizì, ein Priester, verfügt über handwerkliche Fähigkeiten, interessiert sich für die Naturwissenschaften und kreiert eine Wundersalbe gegen Krankheiten jedweder Art. Davon erhofft er sich Reichtum. Seine elegante Schwester blättert hingegen vor allem in Modezeitschriften.
Von allen ignoriert
In dieser Welt, die sich keinen Deut um das schüchterne Mädchen schert, gewinnen die Gegenstände und Rituale des Alltags für Dolores einen besonderen Stellenwert. «Die Menschen sprachen nicht mit mir, doch die Dinge; es waren viele; sie füllten das Haus.» Hier liegt der Ausgangspunkt für Pratos einzigartiges Bemühen, ihre Erinnerungen festzuhalten. Ihre Erzählgegenwart als Frau in ihren Achtzigern spielt kaum eine Rolle; es geht darum, sich auf das Vergangene mit Haut und Haaren einzulassen und die Sichtweise des langsam heranwachsenden Kindes wieder einzunehmen.
Der kleinen Dolores schenkt kein Mensch Beachtung, sie steht am Rand der Dorfgemeinschaft. «Niemand» wird so zu einer Schlüsselvokabel des Textes, weil das Kind es gewohnt ist, kein interessiertes oder gar liebendes Gegenüber zu haben: «Ich glaube, niemand antwortete, doch war ich ganz durcheinander, verstört, betäubt. Niemand schüttelte mich. Niemand fragte mich, was mit mir los sei, warum ich so verschlafen wirkte, wo ich die ganze Zeit gewesen sei. Sie waren es gewöhnt, mich allein leben zu lassen.»
Folgerichtig greift der Romantitel die Vokabel auf. Einem Hoppe-hoppe-Reiter-Lied fügt die Erzählerin eine Zeile hinzu, die sie nie vergessen wird, die Zeile «Unten auf der Piazza ist niemand». Kein pulsierendes Leben und keine Freunde warten wieder einmal auf sie, nur die Leere eines grossen Platzes.
Und letztlich zeigt «niemand» auch an, wer in Treja wo auf der sozialen Leiter steht: «Erst nach dem Tod waren alle Menschen ‹arm›, auch die Reichen. Doch wenn ein echter Armer starb, war er häufig ‹niemand›. Es läutete die Totenglocke, jemand fragte: ‹Wer ist gestorben?›, und ein anderer antwortete: ‹Niemand, ein Steinklopfer.›»
Ja, Dolores ist ein einsames Kind, doch diese Position schenkt ihr eine Stärke des Beobachtens, öffnet neue Wege und Tore: «Die Einsamkeit schenkte mir die Wunder, die Wunder löschten die Einsamkeit aus.» Der wundersame Kreislauf sorgt dafür, dass nicht im Groll auf die ungewöhnlichen Kinderjahre zurückgeschaut wird. Dolores Prato weiss um das Geschenk, dass sich ihr Schritt für Schritt eine Welt, die man andernorts Fin de Siècle nannte, erschliesst.
Nichts darf verlorengehen, und so öffnen wir mit der Erzählerin jeden Schrank, jede Schublade, erfahren, wie Tomatenmark hergestellt, Esskastanien geröstet, Haare gepflegt werden. Es wird geschildert, wie die unterschiedlich garnierten Polentagerichte sozialen Rang indizieren, was Katzenklappen über den Status eines Hauses verraten und welches Regiment die Priester führen, die so zahlreich «wie Samen in einer Wassermelone» sind. Wir lernen, wie die Saisonschlachter Kutteln säubern und Schweineblut auf den Tisch bringen, eine «Masse, amarantfarben wie unsere Strassenwärterhäuschen».
Herausforderungen für die Übersetzerin
So ist «Unten auf der Piazza ist niemand» auch ein kulturhistorisches Dokument, das von verlorenen Berufen und Bräuchen erzählt. Und davon, welche Schlüsse aus den Sprachregistern gezogen werden können, die die Menschen in Treja verwenden. Viele der eigentümlichen Vokabeln sind im Lauf der Jahre untergegangen, und Anna Leube, die grossartige Übersetzerin, hat ihr ganzes Können aufgebracht, um diese linguistischen Feinheiten zu veranschaulichen.
Es passiert herzlich wenig in diesem Buch. Handelsübliche Plots und Spannungsbögen sucht man vergebens. In diesem Beharrungsvermögen liegt das Faszinierende des Romans und seiner sinnlichen, bilderreichen Sprache. Gewiss, wir begleiten Dolores durch ihre ersten Schuljahre, und wir hören davon, dass der Onkel aus wirtschaftlicher Not irgendwann nach Südamerika auswandert. Er spekuliert auf ein besseres Leben jenseits des Atlantiks und lässt die Zurückgebliebenen lange über sein Schicksal im Ungewissen. Entscheidend ist das alles nicht.
Entscheidend ist, was sich nicht als Ereignis fassen lässt: «Die kurze Kindheit ist so lange, während wir sie erleben, dass die kleinen Stufen ganze Epochen sind; die ersten, ein Mittelding zwischen Wirklichkeit und Phantasie, sind eine Art mythischer Vorgeschichte.» Was für ein Buch. Und was für ein Jammer, dass es zu Lebzeiten der Autorin nur verstümmelt erschienen ist.
Dolores Prato: Unten auf der Piazza ist niemand. Roman. Aus dem Italienischen von Anna Leube. Mit einem Nachwort von Esther Kinsky. Hanser-Verlag, München 2024. 971 S., Fr. 49.90.