Sonntag, November 17

Die Geschichte eines Arbeitsmigranten, der wieder ausgewandert ist.

Es ist der letzte Donnerstag im Jahr 2023. Auf die Pflastersteine des St. Galler Klosterviertels tropft der Regen, ein kalter Wind weht durch die Strassen. Es ist ein Wetter, um zu Hause zu bleiben. Doch ins Restaurant Klosterhof kommen immer mehr Menschen. Drinnen: Hitze, Stimmengewirr.

Es ist eng an den vier Tischen und noch enger an der Bar. Dort, hinter dem hufeisenförmigen Tresen aus Holz, steht Domingo Romero ein letztes Mal. Der Beizer zapft Bier vom Hahn, zaubert ein Flämmchen auf den Carajillo – und setzt den Espresso mit Brandy mit so viel Schwung auf die Untertasse, dass der Löffel darauf klimpert.

Viele machen ein letztes Foto mit Romero, umarmen ihn an diesem Abend zum letzten Mal. Manche haben Tränen in den Augen. Romero wischt ihre Trauer weg. «Venga, vamos, nos vemos.» Komm schon, wir sehen uns wieder.

27 Jahre lang hat der Spanier sie bedient, und wenn sie die Holztür aufstiessen, hat er jeden Einzelnen so willkommen geheissen, als hätte er nur auf ihn gewartet. Jetzt wird Romero pensioniert und kehrt mit seiner Frau zurück in das Dorf seiner Kindheit. Noia in Galicien, 30 Minuten von Santiago de Compostela entfernt.

Romero hat einen Plan. Er möchte wieder fischen, wie früher, mit dem Boot auf dem Meer verweilen, stundenlang, allein.

Einen solchen Plan haben viele Einwanderer. Sie kommen in die Schweiz, arbeiten hier als Tramchauffeure, begegnen uns als Pflegerinnen in Spitälern, als Maurer und Metallbauschlosser in unseren Häusern oder hinter den Fassaden grosser Fabriken. Wie Romero kamen viele in der Hoffnung, irgendwann zurückzukehren, die enge Wohnung gegen ein schönes, grosses Haus im Herkunftsland zu tauschen. Ein Gedanke, der Zuflucht bietet im Arbeitsalltag.

Bei vielen bleibt es ein Traum. Jedoch nicht bei Romero, er geht. Wird er glücklich? Oder wird er die Schweiz vermissen?

Vom Matrosen zum Schwarzarbeiter

Dass viele der Gäste, die sich an diesem kalten Abend in St. Gallen um ihn scharen, zu Freunden werden würden, damit hatte Romero nicht gerechnet, als er 1979 eher zufällig in die Schweiz einwanderte. «Ich wusste nicht, was aus mir wird», sagt er, wenige Tage vor seiner Rückkehr nach Spanien.

Domingo Romero war 21-jährig, als er seinen Brüdern und der Schwester in die Schweiz folgte. Zurück liess er das Fischerdorf Noia an einer Meeresbucht im Westen Galiciens, wo er als jüngstes von vier Kindern, mitten in der Franco-Diktatur, aufgewachsen war. In der Schule wurde er geschlagen, weil er Galicisch sprach, seine Muttersprache.

In seiner Kindheit half er seinem Vater, einem Postboten, die Briefe im Dorf zu verteilen. Romero kannte die Einwohner. «Und die älteren von ihnen kennen mich bis heute», sagt er. Später, als Lastwagenfahrer, fuhr er Fische nach Santiago. Dann war er als Matrose auf Handelsschiffen unterwegs. Er reiste nach Afrika, Florida, Kanada. Romero zählt die Orte auf, als wären es die Tapas in seinem Restaurant.

Dass es ihn auf andere Kontinente verschlug, sei halt so gekommen, sagt er. Wie auch seine Ankunft in der Schweiz. Hier trifft Romero auf viele seiner Landsleute. Bereits zwischen 1960 und 1970 verlor Spanien eineinhalb Millionen Einwohnerinnen und Einwohner, die ihr Glück als Gastarbeiter im Ausland suchten. In dieser Zeit kamen über 120 000 von ihnen in die Schweiz.

Als junger Mann arbeitete Romero teilweise schwarz, bis er einen regulären Vertrag bekam. Er fand Arbeit in einer Textilfabrik in Teufen, dann als Metzger in Gossau. Nach sieben Jahren hatte er genug. Ein Freund, der ein Restaurant in der St. Galler Altstadt betrieb, stellte ihn, der im Militär am Herd gestanden war, 1986 als Koch an. Mit seiner Paella machte er sich bald einen Namen.

Romero war angekommen. Nicht nur im Land, sondern auch im Leben hier. Die Sehnsucht nach dem anderen Leben aber blieb. Er besuchte den Spanierverein in Rorschach, wo er sich mit Bauarbeitern, Handwerkern und Näherinnen über die Arbeitsrechte in der Schweiz austauschte. Wo sie zusammen aber auch Karten spielten, Geld in die spanische Lotterie investierten, Fussballspiele der spanischen Liga anschauten. Oder die Liebe ihres Lebens fanden. Wie Romero.

Arbeiterinnen und Arbeiter wie er blieben unter sich. Ihre Integration wurde damals weder eingefordert noch gefördert. Niemand rechnete damit, dass sie bleiben würden. Auch Romero nicht.

Integration? Romero kann mit diesem Wort wenig anfangen. Bis heute spricht er gebrochen Deutsch.

Die wundersame Metalldose

Wirtschaftlich ging es mit ihm aber stetig aufwärts. 1996 übernahm er das Restaurant «Chlösti», zusammen mit Pablo Manso, dem Sohn seines Chefs. Hier blieb er 27 Jahre lang. Seitdem standen Pulpo, Gambas al Ajillo und Tortilla auf der Speisekarte. Das kleine Lokal mit den mintgrünen Wänden und den bunten Keramikkacheln, den weiss gedeckten Tischen und den lottrigen Türklinken wurde zu seinem Zuhause. Und Pablo zu einem guten Freund.

Neben der Flagge von Real Madrid hängt auch ein Trikot des FC St. Gallen an der Wand. Es scheint, als habe Domingo Romero nun zwei Heimaten. Doch wenn es um Fussball geht, hat er einen klaren Favoriten: Spanien. Als die Schweiz während der Europameisterschaften im Sommer 2021 im Viertelfinale gegen das Land verlor, schenkte Romero den Gästen zum Trost ein Schnäpschen ein. Licor 43 für die Frauen, Veterano für die Männer. «Medicina», wie er dann sagte. Solche Fussballabende gehörten zu seinen schönsten Erlebnissen hier.

Was Domingo Romero fühlt, darüber hat der Wirt nie viele Worte verloren. Keiner wusste, was er dachte, wenn er sich wieder einmal mit hochgekrempelten Ärmeln an der Theke aufstützte, den Blick in die Ferne gerichtet, wie wohl damals schon, als Matrose am Schiffsbug. Waren das die Momente, in denen er daran dachte, wie es wäre, in seine Heimat am Meer zurückzukehren? War das seine Zuflucht, um den Alltag in St. Gallen durchzustehen?

Manchmal, wenn er die Metalldose unter der Theke hervorkramte, öffnete er sich. Er breitete Fotos aus, sie zeigten einen jungen Domingo, zwei Jahre nach der Ankunft in der Schweiz. Einen Romero mit weit geöffnetem Hemd, neben einem alten Peugeot 504 stehend, gekauft aus den Ersparnissen als Matrose. Sie zeigten ihn als Fischer auf einem Boot in Galicien. Und zusammen mit seiner Frau, mit der er zwei Töchter hat.

Zu aktiv für einen Spanier

Eine seiner Töchter ist Limara. Am Abend seines Abschieds im nasskalten Dezember 2023 steht sie in der Küche und schneidet Manchego-Käse in Stücke. Die junge Frau ist mit einem Schweizer verheiratet, genauso wie ihre Schwester Celia. Beide werden sie hierbleiben. «Ich hoffe, dass mein Vater es sich in Spanien nicht zu schön vorstellt», sagt Limara. «Und wer weiss, was passiert, wenn er einmal Enkel bekommt.»

Domingo Romero aber bleibt dabei. Die Möbel aus der Wohnung sind verkauft. Es ist Zeit, die Metalldose mit den Fotos einzupacken. Doch etwas Nostalgie befällt nun auch ihn, den sonst so stoischen Romero. Als eine seiner letzten Amtshandlungen nagelt er ein Bild von sich und seinem Geschäftspartner Pablo Manso an die Wand des «Chlöschti». Es zeigt beide Männer hinter der Bar. «Eine Überraschung für Pablo», sagt er. Zum ersten Mal klingt er etwas wehmütig.

Wenige Tage später geht sein Flug. Zürich–Santiago de Compostela einfach.

Viele andere Arbeitsmigranten wagen diesen Schritt nicht. Ihr Haus in der Heimat steht leer, weil die Hälfte der Familie nicht mitzieht. Als Pensionäre sitzen sie stattdessen in ihren Schweizer Schrebergärten, wo sie übergrosse Zucchetti züchten und eine Spanienflagge aufgezogen haben. Sie haben sich an die Annehmlichkeiten der Schweiz gewöhnt, auch wenn sie noch immer nur über Satellitenempfang fernsehen und über das raue Wetter fluchen.

Etwas, das Romero jetzt nicht mehr tun muss. Es vergehen sechs Monate, bis er ein Video per Whatsapp schickt. Man sieht ein Fischerboot, das sanft auf den Wellen des Meeres schaukelt. Und in der Ferne eine Bucht, wo der Wald bis ans Ufer reicht. «Es geht mir gut hier», sagt Romero. «Ich vermisse nichts, nur euch alle.»

Etwas später folgen die Bilder seines Fangs. Die Fische sind so gross, dass sie auf dem Teller keinen Platz haben. Sein Profilbild zeigt den Sonnenuntergang, aufgenommen von seinem Balkon mit den bunten Keramikkacheln.

Doch was ist mit der Schweiz? Ist sie nur noch eine weit entfernte Erinnerung? Nicht ganz. Romero sagt: «Für die Spanier bin ich zu aktiv. Sie sagen, ich müsse zur Ruhe kommen.»

Für Domingo Romero ist das hier Ruhe. Er wusste, wo sein Glück liegt, und hat es wiedergefunden. Auf einem wackligen Boot in den Wellen des Atlantiks.

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