Samstag, November 30

Am US Open vor einem Jahr war Strickers Stern aufgegangen. Doch seither klappte fast nichts mehr. Nun steht die grösste Schweizer Nachwuchshoffnung im Männertennis vor wegweisenden Wochen.

Am 16. August feierte Dominic Stricker seinen 22. Geburtstag. Der Berner verbrachte seinen Feiertag in der Economyclass eines Transatlantikfluges von Polen in die USA. Am Montagabend (MESZ) startete er am ATP-250-Turnier von Winston-Salem in die amerikanische Hartplatzsaison. Er gewann seinen ersten Match gegen den Argentinier Federico Coria (ATP 78) 7:5, 6:2.

Es war Strickers erster Sieg im laufenden Jahr auf der ATP-Tour. Bereits am Dienstagabend geht das Turnier für ihn mit dem Zweitrundenmatch gegen den Italiener Lorenzo Sonego (58) weiter. Stricker blickt auf schwierige Monate zurück. Er hat in der laufenden Saison bis zum Turnier in Winston-Salem erst drei von zehn Partien gewonnen. Trotzdem wird er auch am US Open in New York im Hauptfeld starten können – dank dem geschützten Ranking. Seine derzeitige Klassierung (ATP 182) hätte nicht einmal mehr gereicht, um am Qualifikationsturnier teilzunehmen.

Im Rausch von Whitney Houston

Stricker ist neben Stan Wawrinka (ATP 141, Wild Card) und Victoria Golubic (WTA 83) einer von nur drei Schweizern, die es direkt ins 128-köpfige Hauptfeld des letzten Major-Turniers der Saison schaffen. Dazu starteten fünf weitere Schweizer in New York in der Qualifikation.

Vor einem Jahr war Dominic Strickers Stern in New York aufgegangen. Die ATP führte ihn Anfang dieser Woche unter den grössten Grand-Slam-Überraschungen der vergangenen Saison. Die Bilder, wie er während seines gewonnenen Achtelfinals gegen den griechischen Top-Ten-Spieler Stefanos Tsitsipas beim Seitenwechsel auf dem Stuhl sass und lautstark zu Whitney Houstons «I wanna dance with somebody» mitsang, gingen um die Welt und prägten das Bild des einfachen, bodenständigen Berners.

Aus der Qualifikation kommend, schaffte er es in New York bis in den Achtelfinal. Dort scheiterte er am amerikanischen Top-Ten-Spieler Taylor Fritz. Im Ranking machte Stricker danach einen Sprung von Position 205 auf 90. Endlich schien er die Erwartungen, die er zwei Jahre zuvor mit seinem Sieg am Juniorenturnier von Roland-Garros geweckt hatte, zu erfüllen.

Dominic Stricker On-Court Interview | 2023 US Open Round 2

New York machte Stricker zumindest in der Schweiz auf einen Schlag zum Sympathieträger. Kaum jemand hätte ihm da wohl die Aufforderung zum Tanze ausgeschlagen. Sein Werbeportfolio wuchs rasant. Bis heute ist Stricker einer jener Schweizer Athleten mit der höchsten Werbepräsenz im Fernsehen. Er wirbt für eine Versicherung (Vaudoise), ein Finanzinstitut (Cornercard), einen Wärmepumpenhersteller (CTA), einen regionalen Storenbauunternehmer (Zaugg), eine junge Schweizer Uhrenmarke (Norqain), einen italienischen Autohersteller (Alfa Romeo) oder ein französisches Mineralwasser (Evian). Für viel Aufsehen sorgte insbesondere der TV-Spot für den Unterwäscheproduzenten ISA Bodywear.

Mittlerweile aber läuft es Stricker zumindest sportlich längst nicht mehr rund, und der Bruch kam ausgerechnet nach seiner bisher stärksten Phase auf der Profitour. Seit Stricker am US Open geglänzt hatte, gewann er kaum noch einen Match. Im Herbst folgten fünf Erstrundenniederlagen nacheinander. Nur an den Swiss Indoors in Basel überstand er noch zwei Runden. An den Next-Gen-Finals der besten Nachwuchsspieler in Jidda in Saudiarabien musste er sich in der vierten Partie wegen Rückenproblemen zurückziehen.

Mittlerweile fehlt neben der Matchpraxis auch das Selbstvertrauen

Seither hat Dominic Stricker kaum mehr gespielt. Mit seinem Physiotherapeuten und dem Fitnesstrainer arbeitete er an seiner körperlichen Schwachstelle, dem Rücken. «Nun», sagt sein Vater und Manager Stephan Stricker, «fühlt sich Dominic so weit erholt und bereit, dass er wieder angreifen kann.»

Was Stricker ganz sicher noch fehlt, ist die Matchpraxis. Der Sieg in der ersten Runde von Winston-Salem war ein erster kleiner Schritt in die richtige Richtung. Doch wirklich ernst wird es für den Berner erst nächste Woche in New York. Dort muss Stricker 205 seiner derzeit 320 Weltranglistenpunkte verteidigen. Gelingt ihm das nicht, droht ihm der Fall in die Ranking-Region um die Position 350.

Stricker steht an einem Punkt, der für seine Karriere wegweisend werden könnte. Er hat fraglos das Talent, sich unter den besten 100 der ATP-Tour zu etablieren und damit sein Leben mit Tennisspielen zu finanzieren. Gleichzeitig müsste er mit nunmehr 22 Jahren langsam zur Konstanz finden. Immer wieder warfen ihn jüngst körperliche Probleme zurück. Szenenkenner bemängelten die fehlende Fitness und zuweilen auch seine Einstellung. Auch daran soll Stricker in den vergangenen Monaten gearbeitet haben.

Nun allerdings kommt noch der Druck dazu. Seine Psyche, sagt Stephan Stricker, sei etwas angeschlagen. Doch im Grossen und Ganzen gehe es seinem Sohn gut. «Dominic gehört nicht zu jenen, die nach einer Niederlage tagelang darüber grübeln, was sie nun wieder falsch gemacht hätten. Doch natürlich gibt es auch Tage, an denen er sich Gedanken macht.»

Auf seiner Website führt Stricker in der Galerie seines Betreuerstabs unter anderem auch die Katze Minu auf. Er bezeichnet sie dort als Happiness-Coach. Die Arbeit ist dem Vierbeiner in den vergangenen Wochen nicht ausgegangen, weiterhin folgte Rückschlag auf Rückschlag. Seit seinem Comeback Anfang Juni hat Stricker bereits wieder öfter verloren als gewonnen. Das US Open könnte zum Schlüsselereignis für die Fortsetzung seiner Karriere werden. Sollte das Turnier für Stricker negativ verlaufen, wartet neue Arbeit auf den Happiness-Coach Minu.

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