Mittwoch, Februar 26

Der Ablösungsprozess vom Vater stürzt den 22-jährigen Berner in eine tiefe Sinnkrise. Der Schweizer Verband bangt um einen seiner vielversprechendsten Tennisspieler.

Dominic Stricker kommt nicht aus seinem Tief heraus. Am Dienstag verlor die Schweizer Tennishoffnung am Challenger-Turnier in Lugano das Erstrundenspiel gegen den Litauer Vilius Gaubas (ATP 184) 3:6, 6:1, 2:6. Damit setzte sich der miserable Saisonstart des 22-jährigen Berners fort: Seit Anfang Jahr hat Stricker in Australien, danach im Davis-Cup und nun im Tessin in sechs Partien sechs Mal verloren.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Vor fast vier Jahren hatte Stricker den ersten bedeutenden Titel errungen. Seine Perspektiven waren damals hervorragend, er selbst wirkte voller Zuversicht. Mittlerweile ist das alles wie weggewischt. Und Stricker ist tief verunsichert. Das 6:1 im zweiten Satz gegen Gaubas war der erste Satz, den er seit dem Jahreswechsel für sich entschieden hat. Den letzten Sieg auf der ATP-Tour feierte er im Oktober an den Swiss Indoors in Basel, als er den Niederländer Tallon Griekspoor bezwang.

Vor gut einem Jahr war Stricker in der Weltrangliste noch die Nummer 88. Seinen bisherigen Höhepunkt erlebte er mit der Achtelfinal-Qualifikation am US Open 2023, als er nebst anderen den damaligen griechischen Top-Ten-Spieler Stefanos Tsitsipas bezwang. Die Bilder, wie er beim letzten Seitenwechsel, bevor er zum Match servierte, auf der Bank sass und zu Whitney Houstons Hit «I Wanna Dance with Somebody» mitsang, gingen um die Welt und trugen ihm das Image des unbeschwerten, lebensfrohen Jünglings ein, der selbst in Momenten der grössten Anspannung locker bleibt.

Stricker fällt im Ranking weit zurück, sein Coach kündigt

Das Bild ist längst überholt. Zuerst eine Rückenverletzung und dann persönliche Probleme haben ihn weit zurückgeworfen. Im Ranking ist er auf Position 288 zurückgefallen. Und er verliert stetig weiter an Boden. Mittlerweile muss Stricker ganz unten neu beginnen. Doch es ist fraglich, ob er sich dazu aufraffen kann. Vor wenigen Wochen sprach er offen davon, seine Karriere zu beenden. Spätestens Ende Jahr, sagte Stricker, wolle er das Racket endgültig aus der Hand legen. Sein Coach Dieter Kindlmann reichte danach entnervt die Kündigung ein. Weil er eine Kündigungsfrist von drei Monaten hat, begleitete der Deutsche Stricker noch weiter. Letzterer nahm das Ganze mit einem Schulterzucken hin.

Stricker befindet sich mitten in einem schwierigen Ablösungsprozess von seinem dominanten Vater Stefan, einem Polizisten, der sich mittlerweile auch als Dominics Agent betätigt. Strickers Vater gilt in der Tennisszene als das Hauptproblem des talentierten Berners. Mit seiner fordernden, zuweilen auch übergriffigen Art eckt Stefan Stricker überall an. Immer wieder hat er auch Swiss Tennis verbal angegriffen, weil der Verband den Sohn seiner Meinung nach zu wenig unterstütze. Eine Anfrage für ein Gespräch liess Stefan Stricker unbeantwortet.

Der Verband bangt um einen seiner vielversprechendsten Spieler, in den er viel Geld und Zeit investiert hat. Alessandro Greco, Chef Spitzensport von Swiss Tennis, sagt: «Wir helfen unseren Spielerinnen und Spielern immer so gut es geht und auch über das Tennis hinaus. Es ist alles miteinander verflochten. Ich persönlich helfe, in dem ich den Spielern zur Seite stehe, ihnen Lösungsvorschläge mache und vor allem auch zuhöre.»

Gemeinsam mit Greco kümmerte sich in den vergangenen Wochen auch Severin Lüthi, der Davis-Cup-Captain und langjähriger Coach von Roger Federer, intensiv um Dominic Stricker. Lüthi tat das in seiner Funktion als Coach bei Swiss Tennis. Offen reden über die Gespräche will er aber nicht. Lüthi sagt einzig, Stricker müsse seine Zukunft nun selber in die Hände nehmen und lernen, eigene Entscheidungen zu fällen.

Doch davon schein Stricker noch weit entfernt. Er zeigt eine Beratungsresistenz, die es seinem Umfeld schwer macht, ihm Ratschläge zu geben und ihn zu unterstützen. Noch vor kurzem war er fest entschlossen, sich von seinem Vater abzulösen. Mittlerweile stellt er sich wieder die Frage, ob es ihm wirklich besser ginge, wenn er ohne diesen unterwegs wäre. Zurzeit macht Stricker den Eindruck eines Orientierungslosen, der seinen Kompass verloren hat. Greco sagt, das Positive sei, dass der Spieler nun wieder intensiver trainiere, nachdem er seine Karriere vorübergehend habe schleifen lassen. «Die Arbeit auf dem Platz ist das wichtigste auch für den Geist.»

Die Ablösung von den Eltern ist ein schwieriger Prozess

Sich von den Eltern zu lösen und damit zu emanzipieren, ist ein schwieriger Prozess, dem sich die meisten Tennisspielerinnen und -spieler früher oder später stellen müssen. Belinda Bencic etwa blühte erst dann richtig auf, als sich ihr Vater Ivan etwas zurücknahm und seiner talentierten Tochter, in die er viel Zeit und Geld investiert hatte, mehr Raum zur Eigenverantwortung liess.

Diesen Prozess müssen nun auch Strickers Vater und die Familie des Berners zulassen. Der Jüngling ist heute die Haupteinnahmequelle und gewissermassen der Arbeitgeber einer ganzen Familie. Dass das für einen 22-Jährigen auch zu einer enormen Belastung geworden ist, ist nachvollziehbar.

Doch für Stricker geht es nun um nichts weniger als seine Karriere. Er muss sich ernsthaft die Frage stellen, ob er wirklich bereit ist, sein Leben ganz auf den Tennissport auszurichten. Gelingt ihm das nicht, dann droht die Karriere, die einst so hoffnungsvoll begonnen hat, frühzeitig zu enden.

Vor anderthalb Jahren hatte sich der Tennisspieler noch als zuversichtlicher Sieger präsentiert, dem der Weg an die Spitze weit offen steht. Bei Strickers Auftritt im Tessin war davon nichts mehr zu sehen. Stattdessen resultierte ein weiterer Tiefpunkt, der sämtliche Beobachter ratlos zurückliess. In der kommenden Woche will Stricker am Trimbach-Open, einem kleinen Turnier für Nachwuchsspieler, teilnehmen. Vom Trainingsblock, den er ursprünglich einlegen wollte, ist keine Rede mehr. Strickers Vorhaben wirkt wie die Fortsetzung des Wegs, der ihn in die Orientierungslosigkeit geführt hat.

Exit mobile version