Samstag, Oktober 5

Fast ein Jahrzehnt lang vergingen sich Dutzende von Männern an Gisèle Pélicot, ohne dass sie je davon erfuhr. Ihr Ehemann hatte sie unter Drogen gesetzt und die Taten gefilmt. In Avignon wird ihm und 50 Mitangeklagten der Prozess gemacht.

Die Verbrechen kamen nur durch einen Zufall ans Licht. Dominique Pélicot hatte sich am 12. September 2020 in einem Supermarkt im südfranzösischen Ort Mazan dabei erwischen lassen, wie er mit dem Handy Frauen unter die Röcke filmte. Ein Wachmann verständigte die Polizei. Pélicot wurde verhört und wieder freigelassen. Doch sein Handy musste er zur Kontrolle abgeben.

Die Beamten fanden darauf Hinweise, dass der damals 67-jährige Rentner noch wesentlich schwerwiegendere Straftaten verübt haben könnte. Sie beschlagnahmten seinen Computer und seine Festplatten und entdeckten Tausende von Fotos und Videos, die zeigen, wie eine bewusstlose Frau von Dutzenden Männern vergewaltigt wird – Pélicots Frau.

«Ganz gewöhnliche Männer»

Der Rentner hatte die Szenen systematisch datiert und beschriftet, und so wurde das ganze Ausmass seiner Verbrechen deutlich. Zwischen Juli 2011 und Oktober 2020 verzeichneten die Ermittler insgesamt 92 Vergewaltigungen. Sie identifizierten ausserdem 83 Männer, von denen einige sich wiederholt an der heute 72-jährigen Gisèle Pélicot vergingen.

Wie sich herausstellte, hatte Pélicot seiner Ehefrau über Jahre narkotisierende Medikamente ins Abendessen gemischt. Anschliessend lud er Fremde in das gemeinsame Eheschlafzimmer ein, um Gisèle sexuell zu missbrauchen, während er die Taten filmte. Den Kontakt zu den Männern hatte er über eine spezielle Dating-Website hergestellt. Geld soll er von ihnen nicht verlangt haben. Es sei Pélicot allein «um die Befriedigung seiner perversen Phantasien» gegangen, wie es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft heisst.

Seit Montag müssen sich der frühere Immobilienmakler Pélicot und 50 weitere Angeklagte nun vor einem Gericht in Avignon verantworten. Ihnen drohen bis zu zwanzig Jahre Haft. Der bis Ende Dezember anberaumte Prozess ist öffentlich. Darauf hatte die heute geschiedene Ehefrau selber bestanden, die in Begleitung ihrer drei Kinder im Gerichtssaal erschien. Sie wolle den Angeklagten ins Auge blicken, erklärte ihre Anwältin dem Sender TF1.

Was den Prozess für die Öffentlichkeit so spektakulär macht, ist nicht allein die Kaltblütigkeit des Hauptangeklagten. Es geht auch um die Kultur der Banalisierung krimineller Praktiken; um Mittäter, die sich nichts dabei dachten oder es für ein Spiel hielten, mit einer bewusstlosen Frau Sex zu haben. Vor Gericht stünden nicht nur 51 Männer, sondern eine ganze Gesellschaft mit ihren Obsessionen und Exzessen, schreibt die Lokalzeitung «La Provence».

Bei den Angeklagten handelt es sich, wie «La Provence» urteilt, um «Messieurs Tout-le-monde», um ganz gewöhnliche Männer jeden Alters und aus allen Schichten der Bevölkerung. So ist der Jüngste 25 Jahre alt, der Älteste 73. Sie stammen alle aus der Region und wohnen nicht weit von dem Paar entfernt. Sie sind Feuerwehrleute, Soldaten, Lastwagenfahrer, Klempner, Unternehmer oder Journalisten.

Einige von ihnen sassen bereits wegen Gewalttaten gegen Frauen im Gefängnis. Bei fünf von ihnen fand die Polizei Bilder und Videos von Kinderpornografie. Einer der Angeklagten soll Pélicot seine eigene Frau zur Vergewaltigung angeboten haben. Sie alle kamen aus freien Stücken in die Villa des Ehepaars. Jeder hätte, wie die Staatsanwaltschaft betonte, auf dem Absatz kehrtmachen können. Doch dazu kam es nicht.

«Ich sah, dass sie bewusstlos war, aber ich konnte nicht aufhören», gab einer der Männer zu Protokoll, der sich in der Untersuchungshaft das Leben zu nehmen versuchte. Ein anderer staunt auf den Filmaufnahmen: «Es ist verrückt, dass sie nicht aufwacht.» Vor jeder Vergewaltigung hatte Pélicot Regeln aufgestellt: So sollten die Männer keine starken Gerüche wie Tabak oder Parfum hinterlassen, keine Kleidung im Schlafzimmer vergessen und an kalten Tagen ihre Hände mit heissem Wasser waschen, um seine Frau nicht aufzuwecken.

«Ich war sein Besitz»

Für Gisèle Pélicot brach nach der Festnahme ihres Mannes eine Welt zusammen. Vor den Ermittlern hatte sie ihn bei der ersten Anhörung noch als «tollen Kerl», als aufmerksam und fürsorglich beschrieben. Doch zugleich dämmerte ihr, warum sie schon seit Jahren an Gedächtnislücken, chronischer Müdigkeit und Unterleibsschmerzen litt.

Ein Psychiater diagnostizierte ein schweres psychisches Trauma mit einem erheblichen Selbstmordrisiko. «Ich war sein Besitz», sagte sie ihm. Weil ihr Ehemann die Vergewaltiger dazu gedrängt hatte, kein Kondom zu tragen, fanden sich in ihrem Körper vier sexuell übertragbare Krankheiten. Die dauernde Verabreichung von Medikamenten und der ungeschützte Geschlechtsverkehr hätten eine «schleichende Lebensgefährdung» für das Opfer dargestellt, attestierte ein Arzt.

Gemeinsam mit ihrer Mutter hatte auch Caroline Darian, eine von Pélicots Töchtern, ihren Vater angezeigt, weil sich in dessen Sammlung auch Nacktfotos von ihr fanden. Darian ging 2022 mit ihrem Buch «Und ich habe aufgehört, dich Papa zu nennen» an die Öffentlichkeit. Sie engagiert sich in einem Opferverein und will über Verbrechen aufklären, bei denen weibliche Opfer mit K.-o.-Tropfen oder anderen Vergewaltigungsdrogen «chemisch unterworfen» werden.

Gegen Dominique Pélicot gibt es neben dem jahrelangen Missbrauch an seiner Frau noch weitere Vorwürfe. So soll er 1999 versucht haben, eine junge Immobilienmaklerin in Seine-et-Marne zu betäuben und zu vergewaltigen, indem er sich als interessierter Mieter einer Wohnung ausgab. Bei dieser Tat wurde seine DNA sichergestellt. Und auch im Fall eines unaufgelösten Mordes an einer Immobilienmaklerin in Paris aus dem Jahr 1991 wird mittlerweile gegen Pélicot ermittelt.

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