Sonntag, November 24

«Walt Disney’s Donald Duck. The Ultimate Story» ist ein enzyklopädischer Prachtband. Hier werden alle Metamorphosen des gefiederten Antihelden nachgezeichnet.

Eine fünf Kilogramm schwere, 564 Seiten dicke, in durchweg wohlwollendem Ton verfasste Biografie über eine bedeutende Figur der Zeitgeschichte – ist das nicht anachronistisch? Der Mief des 19. Jahrhunderts haftet solchen Geniekult-verdächtigen Wälzern an. Allenfalls geht es durch, Frauen in monumentalen Einzeldarstellungen als «Sheroes» zu preisen – als Entschädigung für Jahrhunderte des Ignorierens. Aber für die selbsternannten Herren der Schöpfung ist dieser Zug abgefahren.

Es sei denn, es handle sich um einen Erpel aus Entenhausen. Der Prachtband «Walt Disney’s Donald Duck. The Ultimate Story» des Taschen-Verlags zeichnet die Metamorphosen des gefiederten (Anti-)Helden nach – von seiner ersten Hauptrolle im Cartoon «Donald and Pluto» (1936) bis hin zu seiner Karriere als Charakter in Filmen und Videospielen des 21. Jahrhunderts.

In diesem an Informationsfülle fast erstickenden, für gestandene Disney-Nerds gerade deshalb aber empfehlenswerten Wimmelbuch trifft Screwball-Komödie auf malerischen Modernismus, Sitcoms treffen auf Kinofilme, Politik auf Entertainment, Junge auf Erwachsene und natürlich Tiere auf Menschen.

Der von Schlamassel zu Schlamassel watschelnde Erpel ist einfach allgegenwärtig und berührt offenbar generationen- und kulturenübergreifend die innere Ente der Menschen. Das beruht auf Gegenseitigkeit: «Vielleicht bin ich nur eine Ente, aber ich bin menschlich», sprach Donald Duck 1941.

Pendant zu griechischen Göttersagen

Zu beschauen und zu lesen gibt es unter anderem seltene Zeichnungen und unveröffentlichte Arbeiten aus diversen Archiven sowie einen illustrierten Stammbaum der Duck-Dynastie. Um eine dezidiert kritische Auseinandersetzung handelt es sich beim Taschen-Band aber wohlgemerkt nicht. «Walt Disney’s Donald Duck» wird hier vielmehr ein apologetisches Denkmal gesetzt. Ein wenig ist es, als halte man ein Werk über einen herausragenden mittelalterlichen König oder über eine eminente Figur der Mythologie in Händen.

Und das ist gar nicht mal so weit hergeholt. Der Philosoph Umberto Eco interpretierte in den 1960er Jahren den unablässig expandierenden Kosmos der amerikanischen Superhelden als zeitgemässes Pendant der altgriechischen Göttersagen. Diesen Gedanken weiterspinnend, lässt sich die Entenhausen-Saga als in Echtzeit verfertigter Mythos der westlichen beziehungsweise verwestlichten Gegenwart verstehen.

Was auch immer auf der Welt geschieht – früher oder später findet es seinen erzählerisch-bildhaften Widerhall in Entenhausen, vom Zweiten Weltkrieg («Der Fuehrer’s Face», 1943) über den beginnenden Siegeszug des Computers («The Man from Oola-Oola», 1959) bis hin zum Börsenboom um die Jahrtausendwende («The Rise and Fall of Donald Duck», 2000). Aber auch überkommene mythologische Stoffe tauchen in den «Donald Duck»-Ausgaben auf, ob die Suche der Argonauten nach dem Goldenen Vlies oder die Abenteuer des Odysseus.

Im Spiegel der Donald Duckschen Kunstfigur lässt sich der Übergang vom heroischen zum postheroischen Zeitalter nachvollziehen. Bezeichnenderweise heisst es in der Einleitung des neuen Buches: «So wie die grossen Künstler der Renaissance Bilder der Vollkommenheit in menschlicher Gestalt hinterliessen, Michelangelos ‹David› oder ‹Die Geburt der Venus› von Botticelli, so ist Donald Duck, der selbst nicht weniger perfekt ist, die Verkörperung unserer eigenen Unvollkommenheit.»

Das bringt den Reiz dieser Comic-Figur auf den Punkt: Unvollkommenheit in Perfektion. Vielleicht zeigt die Popularität des anthropoiden Erpels aber auch: Als wahrhaft vollkommen gelten mittlerweile nur diejenigen, die zu ihren Schwächen stehen und sie geschickt vermarkten können.

Beim Durchblättern der schier überquellenden Seiten beginnt man zu verstehen, dass die «Donald Duck»-Comics nicht nur eine Mythologie der Zeitgeschichte bilden, sondern auch auf ganz unverkrampfte Weise genau das haben, was der immer noch höfisch-elitäre Kunstbetrieb der Gegenwart unter immensem Aufwand zu simulieren versucht: Diversität und Inklusivität. Am Donald-Duck-Mythos arbeiten diverse, stetig wechselnde Künstler, Texter, Übersetzer, Geschäftsleute aus unterschiedlichen Ländern zusammen. Donald Duck bedarf keiner kunstvermittlerischen Mission. Er wird tatsächlich von diversen Geschlechtern, Altersgruppen, Einkommensklassen begehrt.

In Harvard gelehrt

Das Genre des Comics schlägt dabei intermediale Brücken zwischen Text und Bild und trainiert durchaus die Vorstellungskraft. Für den Comic-Forscher Scott McCloud stellt der Leerraum zwischen zwei Panels, der «Gutter», eine Herausforderung für die Imagination der Leser-Betrachter dar. Und während «Donald Duck» zwar niederschwellig (heute würde man sagen: «inklusiv») ist, appelliert die Reihe zugleich an den hermeneutischen Eifer und den historisierenden Sportsgeist der akademisch Gebildeten.

An der Harvard-Universität wird Disney heute gelehrt wie Homer. Honorige europäische Bildungsbürger, auch das ist dem Buch zu entnehmen, organisieren sich bereits seit den 1970er Jahren als «Donaldisten». Gemeinsam betreiben sie Erpel-Exegese, wie man einst «King Lear»-Exegese betrieb. Der Ernsthaftigkeit des Unterfangens tut die kennerhafte Ironisierung durch die Donaldisten keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil – unter dem Deckmantel des Ironischen und Populären kann der alte bildungsbürgerliche Habitus ohne kalten subkulturellen Gegenwind wohlig überwintern und von einem neuen Frühling träumen.

So werden denn auch des Erpels Abenteuer im vorliegenden Monumentalband fein säuberlich kontextualisiert, periodisiert und kategorisiert: «The Early Years», «The Defining Years», «The International Years». Quellen, Jahreszahlen, Fussnoten, Kontext, professorale Kommentare – es fehlt an nichts. Die ordnende Methode, der gelehrige Zugriff aufs Material und der kennerschaftliche Hang zum Detailreichtum ebnen die traditionellen Unterschiede zwischen Elfenbeinturm und Entertainment, zwischen Avantgarde und Alltag ein.

«Walt Disney’s Donald Duck» zeigt damit nicht nur die Evolution des tölpelhaften Herkules der Entenvögel, sondern implizit auch die Entstehung dessen, was der Literaturwissenschafter Thomas Hecken «Avant-Pop» nennt: avantgardistische Populärkultur. Mag auch der ursprüngliche Gegenstand des Interesses noch so trivial anmuten oder gar so konzipiert worden sein, der Avantgarde-affine Blick entdeckt in ihm kulturell Sinnhaftes.

«Im Blick zurück entstehen die Dinge», singt die Pop-Gruppe Tocotronic. In diesem Sinne ist Donald Duck heute nicht mehr der Donald Duck, der er gewesen ist. Disneys legendäre Figur ist unterdessen ein trojanischer Erpel, in dessen Bauch die vereinten Truppen des Bildungsbürgertums und der Avantgarde der Eroberung der Spassgesellschaft harren.

David Gerstein, J. B. Kaufman: Walt Disneys Donald Duck. Die ultimative Chronik. Taschen-Verlag, 2024, 564 S., Fr. 205.–.

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