Um den Welthandel steht es nicht gut, der Protektionismus gewinnt an Gewicht. Der Chefökonom der Welthandelsorganisation (WTO) hält dem entgegen, dass weniger Handel Länder nicht sicherer, sondern schwächer macht. Es gilt zu verhindern, dass jeder gegen jeden vorgeht.
Herr Ossa, Sie haben 2023 von der Universität Zürich zur Welthandelsorganisation (WTO) gewechselt. Wie erleben Sie den Übergang von der Theorie zur Praxis der Handelspolitik?
Es ist faszinierend. Ich fühle mich oft wie ein Kind im Süsswarenladen, weil ich nun direkt an aktuellen Themen der Handelspolitik arbeiten kann. Gleichzeitig merke ich, dass die Arbeit unmittelbare Auswirkungen hat, was sehr motivierend ist. Während ich an der Universität frei schreiben konnte, wird hier zwar jedes Wort politisch abgewogen, aber das gibt meiner Arbeit mehr Gewicht.
Haben ökonomische Argumente ausreichend Gewicht bei der WTO?
Ja, unsere Analysen helfen den Delegierten, die Hintergründe zu verstehen und Strategien für die Zukunft des Handels zu entwickeln. Themen wie Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit sind zentrale Zukunftsfragen, die auf ökonomischer Basis diskutiert werden. In Gesprächen mit Delegierten und Vertretern aus den Hauptstädten spüre ich, dass unsere Ideen geschätzt werden.
Dennoch dominiert der Eindruck, die WTO habe an Bedeutung verloren. Ist sie noch relevant?
Die WTO hat zwar Schwierigkeiten, aber ihre Relevanz ist ungebrochen. Mehr als 75 Prozent des Welthandels erfolgen weiterhin direkt unter WTO-Regeln nach dem Meistbegünstigungsprinzip. Zwar gibt es vermehrt regionale Abkommen und Handelskonflikte wie zwischen den USA und China, doch die WTO bleibt eine zentrale Institution. Die Fortschritte mögen kleiner geworden sein, aber das bestehende WTO-Regelwerk ist eine historische Errungenschaft, die weiterhin grossen Nutzen bringt. Übrigens auch für die USA, deren Exporte zu 85 Prozent nach diesen Regeln erfolgen.
Alles bestens also?
Nein. Natürlich befinden sich der Welthandel und die WTO in einer Krise. Aber beide sind deshalb nicht irrelevant geworden. Ich halte das Narrativ einer irrelevanten WTO für gefährlich. Wenn alle meinten, dieses System bringe sowieso nichts mehr und jeder könne machen, was er wolle, dann hätten wir ein grosses Problem.
Die Handelspolitik wird zunehmend von Sicherheitsfragen dominiert, was die Globalisierung unter Druck setzt. Wie schlimm ist es um den Welthandel bestellt?
Die Zahlen zeigen keine Deglobalisierung. Trotz geopolitischen Spannungen wächst der weltweite Güterhandel weiterhin, 2024 um 2,7 Prozent, und für 2025 erwarten wir ein Plus von 3 Prozent. Der Handel wächst damit ähnlich schnell wie das Bruttoinlandprodukt. Das muss aber nicht so bleiben, wir dürfen uns nicht in falscher Sicherheit wiegen.
Auch Umweltorganisationen kritisieren den Handel zunehmend.
Ja, wobei der Handel bei der Klimafrage ein Teil der Lösung ist und nicht ein Teil des Problems. Doch leider denken viele Menschen, Handel führe zu Transporten und somit zu Emissionen. Sie kommen daher zu dem Schluss, Handel sei schlecht für die Umwelt und nur regionaler Konsum sei ökologisch. Das ist falsch.
Warum?
Weil es neben den Emissionen des Transports auch die Emissionen der Herstellung gibt. Diese variieren stark zwischen Ländern. Das eröffnet Chancen. Denn das Prinzip, dass Handelsgewinne entstehen, wenn sich Länder auf Sektoren spezialisieren, in denen sie relativ produktiv sind, gilt auch für die Ökologie. Es gibt einen ökologischen komparativen Vorteil. Länder sollten sich auf Sektoren spezialisieren, in denen sie relativ emissionsarm produzieren. Das würde Emissionen global senken. Es gilt, die Handels- und Umweltpolitik besser zu verzahnen.
Ob die Botschaft in den USA ankommen wird, bleibt abzuwarten. Dort regiert mit Donald Trump bald wieder ein Befürworter hoher Zölle. Stehen wir vor einem neuen globalen Zollkrieg?
Die höhere Unsicherheit schadet dem Handel bereits jetzt. Unternehmen zögern, langfristige Investitionen zu tätigen. Dennoch sollten wir abwarten, welche Zölle tatsächlich eingeführt werden. Und dann muss man auch die Bedeutung der USA im Welthandel relativieren: Ihr bilateraler Handel mit China macht nur knapp 3 Prozent des globalen Handels aus.
Trump hat höhere Zölle gegenüber den Nachbarländern Mexiko und Kanada angekündigt, mit denen die USA ein Freihandelsabkommen haben. Wie sollen Länder auf solche Drohungen reagieren?
Zunächst sollte man beobachten, was wirklich passiert. Man sollte Eskalationen möglichst vermeiden und die Handelsbeziehungen mit anderen Partnern stärken, um globale Konflikte einzugrenzen und die negativen Effekte auf die eigene Volkswirtschaft zu minimieren. Es muss verhindert werden, dass jeder gegen jeden vorgeht. Was Trumps Ankündigung aber auch zeigt: Offenbar ist auf Friendshoring – also Handel nur mit Verbündeten – doch nicht immer Verlass, wenn es sogar Partner wie Mexiko oder Kanada trifft.
Wenn in der Handelspolitik zusehends ein Freund-Feind-Schema dominiert, sollte man nicht stärker auf plurilaterale Abkommen setzen, also Vereinbarungen von kleineren Ländergruppen?
Solche Abkommen sind sinnvoll und werden in der WTO bereits vorangetrieben, etwa im Bereich E-Commerce. Plurilaterale und auch bilaterale Abkommen wirken wie eine Zusatzversicherung. Sie bieten aber keine absolute Stabilität. Ob sie nur zwischen befreundeten Staaten abgeschlossen werden sollen, ist eine andere Frage. Der Fokus auf die nationale Sicherheit widerspricht ja stark der früheren Überzeugung, dass wirtschaftliche Verflechtung auch zwischen rivalisierenden Ländern sinnvoll ist.
Gegenwärtig dominiert der Zielkonflikt zwischen Unabhängigkeit und Handel den Diskurs.
Das ist das Kernproblem. Denn es ist doch so: Wer sich auf seine Unabhängigkeit konzentriert, investiert letztlich in seine Schwächen. Es gab ja einen Grund, warum man zuvor Güter aus einem anderen Land importiert hat, zum Beispiel komparative Vorteile und Handelsgewinne. Wer alles selber machen will, muss diese Vorteile aufgeben und schwächt sich damit selbst. Ich bin überzeugt: Oft wäre es sinnvoller, den internationalen Handel zu nutzen und in die eigenen Stärken zu investieren.
Sie sagen also: Nicht die Unabhängigkeit, sondern der Handel gibt uns den Spielraum, stärker und sicherer zu werden.
Es braucht natürlich eine Balance zwischen völliger Offenheit und völliger Autarkie. Regierungen müssen gezielt analysieren, welche Abhängigkeiten kritisch sind und wo ihre Wettbewerbsvorteile liegen, um strategisch darauf aufzubauen.
Wenn die Länder verstärkt auf Sicherheit setzen: Hat das auch damit zu tun, dass man es mit der Globalisierung allenfalls übertrieben hat? Etwa mit Blick auf Lieferketten, die auf Just-in-time-Produktion getaktet waren und keinerlei Störung mehr zuliessen?
Wir erleben derzeit einen Krieg in Europa, davor gab es eine Pandemie. Natürlich haben solche Ereignisse Auswirkungen auf den Handel. Die Erwartung, dass die Wirtschaft so strukturiert sein muss, dass sie selbst solche Schocks einfach wegstecken kann, ist unrealistisch. Aber insgesamt hat sich der Handel in der Pandemie als erstaunlich resilient erwiesen und eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung der Pandemie gespielt. Schon drei Quartale nach den ersten Lockdowns erreichten die globalen Handelsströme wieder das Vorkrisenniveau.
In letzter Zeit greifen immer mehr Länder zu Subventionen statt Zöllen, um ihre einheimische Industrie zu schützen. Wieso hat die WTO hier noch kaum ein Gegenmittel gefunden?
Es gibt tatsächlich eine Renaissance der Industriepolitik. Zum Einsatz kommen dabei nicht nur Subventionen, sondern auch andere Instrumente wie lokale Produktionsanforderungen oder das staatliche Beschaffungswesen. Für all diese Massnahmen existieren WTO-Abkommen, die deren Anwendung einschränken sollen.
Wieso greifen sie nicht stärker?
Hier gibt es sicher Reformbedarf. Einige Mitgliedländer argumentieren zum Beispiel, dass die jetzigen Subventionsregeln die Industriepolitik Chinas nicht hinreichend einschränkten oder dass es mehr Spielraum für Subventionen grüner Technologien brauche. Aber dann muss man sie ändern, anstatt sie zu umgehen, weil sonst die Glaubwürdigkeit des ganzen Systems geschwächt würde.
Protektionismus wird auch damit begründet, dass ungeschützter Freihandel zu strukturellen Schocks führe und Arbeitsplätze koste.
Das rasante Wachstum der chinesischen Wirtschaft hat, verstärkt durch den technologischen Wandel, in der Tat zu Problemen auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt geführt. Oft wird aber vergessen, dass wir in den vergangenen dreissig Jahren auch eine historisch einmalige Konvergenz hatten zwischen ärmeren und reicheren Ländern, durch die Hunderte von Millionen Menschen der Armut entkommen sind. Und das dank und nicht trotz Handel. Der Anteil der Menschen, die unter der Armutsgrenze von real 2 Dollar 15 leben, lag 1995 in Ländern mit geringem und mittlerem Einkommen bei 40 Prozent, jetzt sind es 11 Prozent. Das ist eine Erfolgsgeschichte.
Aber dieser China-Schock kann eben auch zu politischer Polarisierung und Rückschlägen führen, wie man in den USA von Donald Trump sieht.
Das stimmt, aber ich finde den Begriff China-Schock dennoch unpassend, denn es war ja ein Wirtschaftswunder für einen erheblichen Teil der Weltbevölkerung. Übrigens gibt es zwischen Offenheit und Ungleichheit keinen statistisch klaren Zusammenhang. Es gibt sehr offene Länder mit relativ gleicher Einkommensverteilung – und solche mit ungleicher.
Dennoch gibt es den Streit zwischen den USA und China, der zusehends zu einem Auseinanderdriften der Normenräume führt.
Ja, mit weitreichenden Folgen für den Handel. Zum einen beobachten wir eine Fragmentierung des Güterhandels entlang geopolitischer Linien. Zum anderen gestalten sich Versuche, gemeinsame Regeln für den internationalen Datenverkehr zu finden, zunehmend als schwierig. Das ist problematisch, weil es hier um die Zukunft des Handels geht. Der digitale Handel mit Dienstleistungen wie Buchhaltung, Marketing und IT hat riesiges Potenzial. Alles was man von zu Hause aus erledigen kann, lässt sich prinzipiell auch aus dem Ausland erbringen. Hier gilt es, regulatorisch die entsprechenden Räume zu schaffen.
Während im traditionellen Industriebereich eher Reshoring möglich wird.
Ja, weil dort die Automatisierung die Wettbewerbsunterschiede wieder einebnet.
Auch gegen die Öffnung im Digitalbereich werden Sicherheitsargumente vorgebracht.
Ja, und das hat ja auch ein Stück weit seine Berechtigung. Allerdings lässt sich leicht erahnen, dass auch der Protektionismus in Zukunft digital sein könnte, wenn nicht durch solide Regeln vorgesorgt wird. Sollten Dienstleistungsjobs durch künstliche Intelligenz bedroht werden, dürfte der Ruf nach Schutz vor dem Import digitaler Dienstleistungen nicht lange auf sich warten lassen.
Ost und West scheinen derzeit bestrebt, ihre Wirtschaftsräume zu entkoppeln.
Die Kosten einer solchen Spaltung in zwei Wirtschaftsräume wären erheblich. Wir rechnen, dass dies im Güterbereich zu einem Wohlstandsverlust von bis zu 5 Prozent der Wirtschaftsleistung führen könnte und im Digitalbereich zu einem Wohlstandsverlust von bis zu 1 Prozent.
Umgekehrt bietet künstliche Intelligenz auch dem Handel neue Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung.
Im günstigsten Fall können sprachliche und kulturelle Barrieren abgebaut und Handelskosten erheblich gesenkt werden. Es gibt auch Hinweise, dass künstliche Intelligenz alle produktiver macht, vor allem diejenigen, die heute noch relativ unproduktiv sind. Aber natürlich nur mit der richtigen Regulierung und der richtigen Infrastruktur.
Mit ihrem Einstimmigkeitsprinzip ist die WTO leider ziemlich blockiert, hier für die richtige Regulierung zu sorgen.
Natürlich ist es nicht einfach, wenn 166 Länder zustimmen müssen. Aber unsere Mitglieder haben gerade einstimmig die Generaldirektorin wiedergewählt. Das Einstimmigkeitsprinzip macht die WTO zu einer echten multilateralen Organisation, der nicht unterstellt werden kann, bloss westliche Positionen zu vertreten. Doch es gibt Bestrebungen, künftig mit einem sogenannten verantwortungsvollen Konsens Beschlüsse zu fassen. So könnte man verhindern, dass ein oder zwei Mitgliedstaaten im Alleingang alles blockieren können.
Was braucht es, damit die WTO in zwanzig Jahren noch eine grosse Rolle spielt?
Ohne den Willen der grossen Mitglieder wird es nicht gehen, da dürfen wir uns nichts vormachen. Aber wie gesagt: Die WTO bringt handfeste Vorteile für alle. Ich bin zuversichtlich, dass die grossen WTO-Mitglieder dieses Regelwerk weiter ausbauen und auch in zwanzig Jahren noch nutzen wollen.
Experte des Welthandels
tf./pfi. Ralph Ossa kennt beide Seiten des Handels, jene der Theorie und jene der Praxis. Seit 2023 arbeitet der Deutsche als Chefökonom bei der Welthandelsorganisation (WTO) in Genf, nachdem er zuvor als international äusserst erfolgreicher Wirtschaftsprofessor den Handel, die Globalisierung und ihre politökonomischen Zusammenhänge erforscht hatte. Ossa hat Volkswirtschaft an der privaten deutschen Universität Witten Herdecke und in Harvard studiert. Er doktorierte an der London School of Economics. Danach führte ihn seine akademische Karriere an die Princeton University, die University of Chicago und 2017 an die Universität Zürich, wo Ossa die Kühne-Stiftungs-Professur für internationalen Handel innehat und für seine Verpflichtung bei der WTO beurlaubt ist.