Donnerstag, September 4

Europa habe sich aus freien Stücken und mit moralischer Überheblichkeit in die militärische Abhängigkeit von Amerika begeben, schreibt der französische Philosoph Pascal Bruckner in seiner Analyse. Nun bezahle es dafür.

Dieses Albtraumszenario treibt den Verantwortlichen in Kopenhagen den Angstschweiss auf die Stirn: Um Dänemark zu zwingen, ihm Grönland zu verkaufen, könnte das Weisse Haus alle Internetverbindungen des kleinen skandinavischen Königreichs kappen und ihm Facebook, Instagram, X, Starlink vorenthalten, bis es einknickt. Wie kann man sich Trumps Ukas widersetzen, wenn man nicht mehr mit seinen Lieben kommunizieren kann?

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Am 27. Juli hat Ursula von der Leyen bei einem Treffen im schottischen Golfresort des Präsidenten mit zerknirschter Miene und erzwungenem Lächeln im Gesicht in ein Abkommen mit Donald Trump eingewilligt, das die totale Kapitulation für Europa darstellt: 1,2 Billionen Euro an Verpflichtungen zugunsten Amerikas gegen ein paar Krümel für das Staatenbündnis.

Aber die Unterwerfung wäre unvollständig, wenn der Chef des Weissen Hauses von Europa nicht auch noch verlangen würde, die Digital Services Act abzuschaffen, die die Tätigkeiten amerikanischer Techunternehmen in Europa strengeren Regeln unterwirft. Diese Verordnung wurde von Thierry Breton ausgeheckt, der von 2019 bis 2024 EU-Kommissar für den Binnenmarkt war.

Der amerikanische Finanzminister Scott Bessent hielt am 19. August beim TV-Sender Fox News unverhohlen fest: «Wir verkaufen Waffen an die Europäer, die sie an die Ukraine weiterverkaufen, und der Präsident erhebt eine Marge von 10 Prozent auf die Waffen. Damit decken wir die Kosten für die Luftverteidigung.» Das ist keine Hilfe mehr, das ist Erpressung.

Wie konnte es nach der russischen Invasion im Februar 2022 so weit kommen? Obwohl doch unsere Politiker die Hand aufs Herz gelegt und geschworen hatten, dass sie die Verteidigungsausgaben erhöhen und die Waffenproduktion ausweiten würden, um Kiew zu helfen?

Das Böse kehrt zurück

Wer die Mentalität unseres Kontinents verstehen will, muss bis in die Zeit nach dem Fall der Mauer zurückgehen. 1989 trat Westeuropa in das Zeitalter der Märchen ein: Es hatte nur Ohren für die Idee vom Ende der Geschichte. Unsere politischen Eliten zweifelten nie daran, dass unser kleines westliches Kap die glorreiche Zukunft vorwegnehme. Die Verbindung von Marktwirtschaft, parlamentarischer Demokratie und Rechtsstaatlichkeit würde das alte Theater der Konflikte für immer untergehen lassen und die aggressiven Instinkte der Völker disziplinieren.

Ausgerechnet Europa, das sich schuldig gemacht hatte, die Welt in zwei Weltkriege zu verwickeln und Imperialismus wie Kolonialismus hervorgebracht zu haben. Der Kontinent versprach, sich zu bessern und der restlichen Welt den Frieden aufzuzwingen. Dieses bewundernswerte Bekenntnis hielt freilich der Rückkehr gewalttätiger Leidenschaften und bewaffneter Konflikte nicht stand.

Zugleich aber wurden die Militärbudgets in allen betroffenen Ländern, einschliesslich Frankreich und Grossbritannien, drastisch gekürzt. Denn Europa glaubte nicht mehr an das Böse, sondern kannte nur noch Missverständnisse, die friedlich durch Diskussion und Diplomatie gelöst werden mussten.

Da ungeachtet solcher hehren Überzeugungen der religiöse und der imperiale Fanatismus überall wieder auflebte, überliess die Alte Welt den Vereinigten Staaten die Verantwortung dort, wo die Mittel der Diplomatie versagten. Und weil wir uns in Europa die Hände in Unschuld waschen wollten, kritisierten wir zugleich die USA für ihren Archaismus und ihre Brutalität. Wir waren die Weisheit der Welt, Amerika und nebenbei auch Israel die Unvernunft.

Europa muss erwachsen werden

Als Putins Russland erwachte und der islamistische Terrorismus an allen Ecken und Enden zuschlug, erkannten die Europäer bestürzt, dass ihre Weisheit nur ein anderer Name für selbstverschuldete Ohnmacht war. Rasch stellten sie sich unter die schützenden Fittiche Amerikas. So fanden sie sich wieder im Schuldnerkomplex: Ohne die Hilfe der Alliierten 1917, aber vor allem 1944 wäre die Alte Welt schlichtweg von der Landkarte getilgt oder dauerhaft von sowjetischen Truppen kolonisiert worden.

Solche Grosszügigkeit ist nicht umsonst. Donald Trump, ein kriegerischer Pazifist, wird vielleicht als der erste amerikanische Präsident in Erinnerung bleiben, der laut aussprach, was seine Vorgänger flüsterten. Europa muss für seine Verteidigung zahlen, Verantwortung übernehmen und erwachsen werden.

Trump macht sich diese Abhängigkeit zunutze, um wie zum Spott einen alten Begriff der marxistischen Kritik an der wirtschaftlichen Ausbeutung der Länder Afrikas und Asiens zu reaktivieren: die Theorie vom ungleichen Tausch. Wieder einmal hat sich die Intuition des Präsidenten als Volltreffer erwiesen: Er musste die Amerikaner bloss davon überzeugen, dass sie die neuen Verdammten der Erde seien, aber dass sie nun aus dem demokratischen Mittelalter in das Licht des republikanischen goldenen Zeitalters treten würden.

Die woke Bewegung hat den Trumpismus hervorgebracht

Es bedurfte allerdings einer propagandistischen Anstrengung, um die USA, das reichste Land der Welt, als Prügelknaben der Menschheit darzustellen. In dieser Hinsicht ist der Trumpismus wie der Wokeismus von der Opferideologie geprägt, die er lediglich auf das gesamte amerikanische Volk ausweitet und die sich nicht mehr nur auf Minderheiten beschränkt.

Der Wokeismus, ein fehlgeleiteter Progressivismus, hat den Trumpismus hervorgebracht, einen revolutionären Konservatismus. Dessen neuer Herold sinnt auf Rache und könnte damit manche Grundfesten der amerikanischen Demokratie infrage stellen. Daher die exorbitanten Zölle, die allen Ländern auferlegt wurden und auf die Europa nicht mit Entschlossenheit reagiert hat.

Der amerikanische Präsident hat es verstanden, eine Stimmung und einen Zorn einzufangen und die imperiale Arroganz Amerikas zu verkörpern. Seine Neuheit liegt ausschliesslich in seinem Stil, nicht im Inhalt. Er folgt im Grossen und Ganzen einer Politik, die bereits von Obama und Biden in aller Stille betrieben wurde, nun aber mit einer unverblümten Offenheit vorgetragen wird.

Mit einem Verbündeten wie Trump braucht Europa keine Feinde mehr. Es leidet unter Abhängigkeit und Demütigung. Selbst wenn er seine Gesprächspartner lobt, hat man bei diesem Präsidenten das Gefühl, dass er sie beleidigt. Hat er nicht gesagt, dass alle Staatsoberhäupter der Welt zu ihm kommen würden, um ihm «den Arsch zu küssen»? Das Weisse Haus ist nun der Sitz einer Kleptokratie, die sich nicht einmal mehr versteckt.

Europa ist stärker, als wir glauben

Im Grunde ist Trump das Beste, was Europa passieren konnte. Er ist ein brutaler Weckruf und der komplette Gegensatz zu der süssen Heuchelei seiner Vorgänger, die sich verbeugten, um einem in den Rücken zu fallen. Seine Schroffheit und Vulgarität haben eine erfrischende Wirkung: wie ein Glas Eiswasser, das einem Schlafenden ins Gesicht geschüttet wird. Er hat gesagt, was er tun wird, und er wird tun, was er sagt.

Wie soll Europa damit umgehen? Es muss zunächst alles wortwörtlich nehmen, was Trump sagt. Und es muss sich aus der seit siebzig Jahren andauernden militärischen Vasallisierung befreien und sich von dieser aufdringlichen Bevormundung emanzipieren. Statt Waffen jenseits des Atlantiks zu kaufen, muss Europa sie wieder selber produzieren und dann auch die europäischen Lieferanten bevorzugen. Und es muss eine eigene digitale Technologie entwickeln.

Europa ist stärker, als wir glauben, und die USA schwächer, als sie denken. So haben die europäischen Staats- und Regierungschefs zusammen mit Wolodimir Selenski am 18. August im Oval Office in Washington den amerikanischen Präsidenten dazu gebracht, die Ukraine nicht an den russischen Nachbarn zu verscherbeln.

Um sich den beiden Zwillingsbrüdern Putin und Trump entgegenzustellen, genügen drei Tugenden, die von den Alten gepriesen wurden: Mut, Willenskraft und Hartnäckigkeit. Es würde genügen, sich nicht mehr unter dem Druck aus Washington in Schockstarre versetzen zu lassen. Doch auch hier gilt, was Spinoza im letzten Satz seiner «Ethik» feststellt: «Alles Erhabene aber ist ebenso schwierig wie selten.»

Pascal Bruckner ist Philosoph und Schriftsteller. Er lebt in Paris. – Übersetzt aus dem Französischen.

Exit mobile version